Hypertext
Donnerstag, 18. November 2004
Zu Rainer Kuhlens "Wenn Autoren und ihre Werke Kollaborateure werden –was ändert sich dann? Oder: Wenn Kommunikation ein Recht wird, was ändert sich dann?" (2004)

Kollaboration ist das Schlagwort, mit dem Kuhlen ausdrücken will, dass sich traditionelle Formen des Umgangs mit Wissen und Information in elektronischen Netzwerken auflösen. Sowohl die Rolle des Autors und seines Werks als dessen „geistiges Eigentum“ sowie Texte/Inhalte selbst als einzelne, voneinander unabhängige „Wissensstücke“ verlieren ihre Bedeutung durch das Prinzip der Hypertextualität, die zentrales Kennzeichen von Netzwerken darstellt. Ein Text kann nicht mehr für sich alleine stehen, sondern konstituiert sich vielmehr aus seiner Beziehung zu einer Reihe anderer Texte. Genauso wenig gibt es nunmehr „den“ Autor - die Frage nach individueller Leistungszuschreibung muss neu gestellt werden.

Wie kann nun ein so ermöglichtes „kollaboratives Verhalten“ unseren Umgang mit Wissen und Information sowie unser kommunikatives Verhalten beeinflussen?

Wissen und Information werden in elektronischen Netzwerken zu einem Allgemeingut, die offene und freie Nutzung von Wissen kann durch verschiedene Lizenzierungen, wie etwa des creative-common-Ansatzes oder open access gefördert werden.
Nun ist es aber eine Herausforderung der Kollaboration, die als Kommunikation verstanden wird, also als Prozess des Umgangs mit Wissen allgemein (dessen Produktion, Verteilung, Neuentwicklung), individuelle mit kollaborativen Leistungen zusammenzubringen: Der Autor muss autonom handeln können, sich jedoch dabei innerhalb eines Netzwerks begreifen (Kuhlen nennt es „kollaborative Situation“) und nicht nur als „reaktionär“ auf – technisch gesprochen – die anderen Teile bzw. Teilnehmer.

Auch in der Wissenschaft sind, nach Ansicht des Autors, angesichts zunehmender Kooperationen und Zusammenarbeit mehrerer Autoren andere Zugangsweisen gefordert, die individuelle Leistung re-formulieren.

Nicht nur in der Wissenschaft, auch im Wissensmanagement, also dem Umgang mit Produktion, Verteilung und Nutzung von Wissen, bedeuten die raschen technisch-medialen Veränderungen einen anderen Zugang zum Thema: Vorstellungen von Wissen als einem „gelagerten Vorrat“, der also statisch ist und dann zu einem gewissen Zeitpunkt zur Verfügung gestellt wird, weichen zugunsten eines Verständnisses von Wissen als kontinuierlichem Prozess, und zwar als Kommunikations-Prozess, von seiner Entstehung über die Verteilung zur Weiterentwicklung. Kollaboration als Ganzes ist somit Kommunikation.
Dieser Prozess könne nach Kuhlen einen spezifischen Mehrwert entstehen lassen, und zwar dadurch, dass Laien sowie Wissenschaftler nicht nur in Dialog, sondern in einen „Multilog“ treten können - das vielfach neu kombinierte und vernetzte Wissen aus vorher womöglich (unabhängigen) einzelnen Wissenstücken kann neues Wissen generieren und außerdem den Einzelnen am Prozess Beteiligten kreative Anreize geben. Leisten könnten dies vor allem asynchrone Kommunikationsforen (im Gegensatz zum synchronen Chat), so auch unser Weblog.
An dieser Stelle kam bei mir die Frage auf, ob Kommunikationsforen wie Weblogs nicht zu „ungeordnet“ sind in dem Sinne, dass es einer gewissen „Richtschnur“ bedürfe, die eine ordnende Funktion erfüllt. Wissensfragmente können, auch wenn sie durch „kollaboratives Verhalten“, indem sie sich in einem konstruktiven Prozess auf andere Fragmente beziehen und/oder diese einbeziehen und zu neuem Wissen integrieren, bisweilen dennoch als „lose Konglomerate“ bestehen, denn immer braucht es eine Art Steuerungs- und Kontrollfunktion, die Anknüpfungspunkte für einzelne Wissensfragmente bietet, darauf aufmerksam macht, einen „Überblick“ hat und also eine wissens-integrierende Funktion wahrnimmt. Wonach ich suchte, fand ich dann erfreulicherweise in Kuhlens Text:
Die Moderation der Kommunikationsvorgänge ist demnach sehr wichtig, vor allem, wenn es um Lernvorgänge geht. Sie schafft Anreize, Orientierungshilfen, Feedback, etc.

Der kollaborative Umgang mit Wissen findet seine Umsetzung im kollaborativen Lernen. Hier geht es nicht darum, sich rein rezeptiv be-stehende Wissensstücke anzueignen (wobei es eines langen und bisweilen mühsamen Prozesses bedarf, es sich tatsächlich anzueignen, zu verinnerlichen und nicht nur rein sinnlich aufzunehmen), wie es häufig in universitären Vorlesungen geschieht, sondern in einem Diskurs, in einem kommunikativen Prozess (der als solcher die Interaktion von Lehrenden, Lernenden u. externen Quellen mit einschließt) Wissen zu generieren, zu bearbeiten, ständig zu aktualisieren. Als Beispiel führt Kuhlen das Konstanzer System K3 an. Hier spielen besonders Gruppenleistungen eine Rolle. Auch hier zeigt sich aber, dass der kollaborative Umgang mit Wissen sich nicht selbst entwickelt, sondern sehr wohl geplant, gesteuert und kontrolliert werden muss.

Kollaboration im Sinne eines kommunikativen Prozesses ist für Kuhlen nun auch in globalen Dimensionen anwendbar bzw. wünschenswert. Nämlich, wenn der Autor erörtert, ob und warum sich die Kommunikationsfreiheit als r2c in die Menschenrechte integrieren sollte.
Was geschieht, ist laut Kuhlen nur eine Distribution von Information und Gedankengut (das Wort „impart“ im Art. 19 der UDHR verweist darauf), die also – wie ich dies aufgefasst habe – von einem zentralen Verteiler ausgehen (noch immer bestimmen große Medieninstitutionen u. a. Organisationen den öffentlichen Diskurs). Angestrebt werden sollte aber eine im kollaborativen Sinne wirkliche Kommunikation als gleichwertigem, uneingeschränktem Austausch von Information.

Auf eine globale Ebene übertragen, bedeutet der Austausch über kommunikative Medien auch eine Medienfreiheit, die in vielen Ländern nicht gegeben ist.
Dass eine angesichts der sich rasch verändernden Umgangsformen mit Wissen und Information durch elektronische Netzwerke eine rechtliche Kodifizierung der Kommunikationsfreiheit notwendig sei, macht Kuhlen klar.

Zu meiner Meinung...
Die Art der Umsetzung von Kollaboration im System K3 habe ich im Text mit großem Interesse verfolgt. Das kreative Potenzial, das in derartigen Lernvorgängen freigesetzt werden kann, kann ich nicht anzweifeln. Es stellt sich mir dennoch die Frage, inwieweit ein rein gruppenorientiertes bzw. kollaboratives Vorgehen individuelle Leistungen oder vielmehr individuelles Können überhaupt zur Entfaltung bringen kann. Kuhlen deutet an, dass die beim Konstanzer System K3 noch ausschlaggebende individuelle Leistungsbeurteilung im kollaborativen Wissensumgang nicht mehr nötig sei. Auch, wenn die zukünftige Berufspraxis besonders großen Wert auf Kollaboration legen wird, wie Kuhlen annimmt (S.11) – dass sich ein Mehrwert daraus ergibt, bestreite ich nicht – benötigen wir meiner Ansicht nach sehr wohl auch Formen des Umgangs mit Wissen, die die Einzelleistung „überwachen“. (im Sinne von beobachten, bewerten). Der Mehrwert für alle Kollaborateure muss auch einer für den Einzelnen sein, ein Lernprozess „im großen Stil“ muss sich auch innerhalb der „kleineren“ Systeme der einzelnen Beteiligten ergeben, deren kognitive Prozesse erst die Leistung bringen, zusammenzufügen, zu vernetzen.

Der Umgang mit kollaborativem Lernen steckt ja kaum in den Kinderschuhen, wir sind in einer Experimentierphase, vieles ist natürlich noch zu lernen und auszutesten, und ich finde es oft sehr sinnvoll, einfach „mal zu machen“, also auszuprobieren; doch sollte man auch im Hinterkopf haben, das gut Gemeintes (Kollaboration in der Lernumgebung soll ja gut und nützlich sein) auch Daneben gehen kann – ohne ständige Reflexion des Vorgehens und in den Prozess eingebaute Mechanismen (die selbst natürlich nicht starr sein können) kann Kollaboration sich unkontrolliert in eine Richtung entwickeln, die nicht (ich meine: nicht nur nach dem Motto „einfach mal schauen, was passiert“) einen konstruktiven Prozess fördert. Der Sinn kann leicht verfehlt werden, wenn etwa ein „zeitgemäßes“, fortschrittliches Denken im Umgang mit Wissen in seiner Anwendung zum Selbstzweck abgleitet.

Den Weblog finde ich eine interessante und nützliche „Form“, das Wissen, das wir im Rahmen der VO an der Uni mitbekommen, mit zu gestalten. Es braucht halt seine Zeit, bis diese Form des Wissensaustausches auch sinnvoll und relevant für alle erscheint, und nicht womöglich, so „nebenbei läuft“ als Forum, in dem wir einfach unsere Pflichtaufgaben präsentieren müssen. Hier kann der Sinn, ein neues Medium als Chance für die Umsetzung kollaborativen Lernens begreiflich zu machen, auch verfehlt werden, wenn Dinge um ihrer selbst willen getan werden. Es kommt eben zum großen Teil darauf an, worin der Einzelne für sich einen Nutzen sieht (und ob er ihn überhaupt sehen will).
Ich selbst habe vor der LV Schlüsseltechnologien noch nie mit Weblogs zu tun gehabt und lerne gerade, damit umzugehen. Ich finde es ziemlich interessant und es macht auch Spaß, wenn man mal wieder was dazugelernt hat, und wenn's einmal nur html-Codes sind (seit ein paar Minuten weiß ich z.B., wie man Text fett, kursiv, usw. macht!!).
Nur noch mal so viel: Der Nutzen, den uns etwas Neues bringen kann, kann auch nicht erzwungen werden, er hängt ja auch jeweils von den Bedürfnissen der Menschen ab. Gängige Lernmethoden bedürfen gewiss einer Umorientierung, ich meine nur, wir sollten uns nicht immer nur mit enthusiastischer Sicht auf die positiven Chancen in neue Möglichkeiten hineinstürzen.
Was unsere LV angeht, so braucht es nach wie vor den mündlichen „Input“ an der Uni, und vor allem Zeit, um zu Lernen.

In Zusammenhang mit den Chancen von Kollaboration auf globaler Dimension möchte ich noch anmerken, dass ich Kuhlens Kritik an der gegenwärtigen Kommerzialisierung und Monopolisierung von (damit wirtschaftlichen Interessen unterlegenen) Wissen und Information, teile. Die Kluft zwischen technisch hochgerüsteten Ländern und Entwicklungsländern, geläufig als Digital Divide, treibt dadurch weiter auseinander.
Soll Kommunikation im Sinne eines Austauschprozesses auch auf globaler Ebene funktionieren, können dies nur wirklich "kommunikative Medien" leisten. Das sind Medien, die nicht auf dem traditionellen Sender-Empfänger-Schema beruhen, sondern beide Seiten zu "Kommunikatoren" und somit gleichwertigen Beteiligten im Kommunikationsprozess machen. Heute wird massenmediale Kommunikation noch immer im großen Stil als "Einbahn" betrieben, ausgehend von der Zentrale zu (passiven im Sinne von ausgeschlossenen) einer peripheren Nutzerschaft.
Kuhlens Vision einer irgendwie verbindenden, Grenzen auflösenden Form der (Medien-)Kommunikation ist, wie ich meine, ein sehr schöner, aber auch hoch gegriffener Gedanke. Ob Kollaboration tatsächlich das verbindende Potenzial für eine „gespaltene Weltgesellschaft“ entfalten kann, wie es Kuhlen vorschwebt?
Und noch eine Frage beschäftigt mich: Inwieweit kann sich die Chance des Internet, von einem Distributions- zu einem Kommunikationsapparat zu werden (wie es schon Brecht in den 30er Jahren mit dem Radio vorschwebte), verwirklichen? (Weg von der einspurigen Massenkommunikation zur kollaborativen Netzwerkkommunikation?)
Weitere Quellen:

iz3w (blätter des informationszentrums 3. welt"), März 1998, Ausgabe 228:
"Medien als Körpererweiterungen - Ein Gespräch mit der Medientheoriegruppe "South Side", S. 30-31.
"Kurzschluss - Massenmedien und Kommunikation" von Thomas Cernay, S. 32-34.

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