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Eines der aktuellsten wissenschaftlicen Beiträge zur Beziehung Internet und Demokratie ist das Buch "The internet and democratic citizenship. Theory, practice and policy". In diesem gehen die Autoren gehen die Autoren Steven Coleman und Jay G. Blumler von drei grundsätzlichen und zentralen Annahmen aus, die sie im weiteren Verlauf theoretisch und empirisch besprechen und behandeln:
1. Im Wechselfeld Gesellschaft - Politik findet - bedingt durch Politikverdrossenheit, Vertrauensverlust und höheren Ansprüchen seitens der Bürger - ein Paradigmenwechsel statt.
2. Innerhalb des öffentlichen Diskurses - der sog. “Public Communication” - gibt es eine Krise, die im direkten Zusammenhang mit den gerade genannten Faktoren steht.
3. Die neuen ICTs haben das Potential “to improve public communication and enrich democracy” (10)
Ausgehend von diesen drei zentralen Motiven ist das Buch wie folgt strukturiert:
Zuerst wird die grundsätzliche theoretische Basis definiert, deliberative Demokratie steht entgegen dem derzeitigen in den westlichen Staaten vorhandenen System der repräsentativen Demokratie. Die deliberative Demokratie wird dabei nach Habermas definiert (vgl. 18):
Jedes Individuum muss die Möglichkeit haben, frei Meinung zu äußern und andere Meinungen zu kritisieren
Negierung des sozialen Status’ innerhalb der Machtverhältnisse
“Bloßstellung” ideologisierter Argumente
Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsfindung durch Produktion eines gesamtgesellschaftlichen Konsens
Doch entgegen diesem idelisiertem Modell der Demokratie stehen einige Gegenargumente, welche im Grunde die repräsentative Demokratie favorisieren:
Zum einen gibt es die “Barriers of Distance, Time and Scale”. Hierbei ist gemeint, dass eine aktive Partizipation des Einzelnen behindert wird durch Faktoren wie Distanz (Nähe zur “Machtzentrale”), Zeit (verschiedene Zeit”erfahrungen” und die Verfügbarkeit von zeitlichem “Kapital” des Einzelnen) sowie der Maßstab, bzw. die Menge der Teilnehmer an der Partizipation:
“If [...] a nation of 250 million citizens devoted twenty-four hours to fully equal collective discussion of some political issue, each citizen would get less than .0004 – less than four ten-thousandths – of one
second to talk. If each citizen insisted, instead, upon a rather modest two minutes of speaking time, the discussion would take five hundred million minutes: that is, 347,222 days, or 950 years. Extreme boredom and impatience would result. “ (22)
Ein weiteres Argument gegen die Verankerung der deliberativen Demokratie in westlichen Gesellschaftsmodellen ist einerseits die “Limits of Public Competence” (hierbei wird auf den jeweiligen Bildungsstatus des Individuums eingegangen mit der Grundfrage, ob alle Bürger überhaupt die Möglichkeit haben, dadurch zu partizipieren) und die “Inevitability of Aggregation and Rational Choice”:
“In general, it is irrational to be politically well informed because the low returns from data simply do not justify their cost in time and other scarce resources. Therefore many voters do not bother to discover their true views before voting, and most citizens are not well enough informed to influence directly the formulation of those policies that affect them”. (23)
Die Grundannahme, dass das Internet das Potential hat, deliberative Demokratie zu verankern, wird von den Autoren wie folgt begründet:
Im Internet keine Trennung mehr zwischen passivem und aktivem Konsumenten (Prosumer)
Keine weiteren Grenzen bei Teilnahme (Zeit, Menge der Informationen)
geringe Transaktionskosten, damit leichter Einstieg für eine Mehrzahl der Bürger
“Synchronisierung” der Kommunikation im Gegensatz zur asynchronen Kommunikation “traditioneller” Medienstrukturen
Im weiteren Verlauf des Buches wird auf die - laut den Autoren stattfindende - Krise der “Public Communication” eingegangen:
Die Auslöser dazu sind sowohl in der gesellschaftlichen, der politischen und der medialen Sphäre zu finden und interdependent. Individualisierung, Modernisierung und Säkularisierung innerhalb der Gesellschaft führt zu einem neuen Verhältnis zwischen Bürger und Politik; die dadurch stattfindende Auflösung sozialer Millieus und Identitäten, die Schwächung identitätsstiftender und sozial-intergrierender Institutionen wie Parteien, Kirchen und Vereinen, als auch die Aufhebung ideologischer Dogmen und Traditionen führen zu einer zunehmenden Fragmentierung der Bevölkerung in Kleinstgruppen und Subkulturen, was die Ansprechbarkeit der Bevölkerung durch die politische Klasse stark erschwert. Zusätzlich ist durch die Ökonomisierungs- und Kommerzialisierungstendenzen innerhalb der traditionellen Massenmedien die Rolle dieser als “Intermediearies” geschwächt und führt gleichzeitig wiederum zu den am Anfang genannten Faktoren wie Politikverdrossenheit und Vertrauensverlust.
Im weiteren Verlauf des Buches versuchen die Autoren anhand empirischer Beispiele die Vor- und Nachteile der Implemetierung deliberativer Demokratie durch e-Democracy aufzuzeigen, wobei sowohl die Implementierung von “oben” als auch von “unten” besprochen wird. Dabei bringen sie im ersten Fall das Beispiel der 2002 in England stattgefundenen “Online Parliamentary Consultation”, bei denen implementiert durch die Politik und ihre Vertreter, interaktive Angebote für Partizipationswillige erstellt wurden: Diese wurden mit Hilfe von live im Fernsehen ausgestrahlten Parlamentsdebatten und der Erstellung eines Online-Forums, bei denen (exklusiv ausgewählte) Bürger Beiträge schreiben konnten, die dann in den Debatten behandelt wurden. Doch allein dieses Beispiel zeigt schon ein Grundproblem der e-Democracy auf: durch die geringe Teilnahme wurde das Projekt schon bereits nach einem Jahr eingestellt.
Als Beispiel für die Implementierung von “unten” zeigen die Autoren das Grassroot-Movement “stopwar.org” von 2003 - eine Internetseite die im Grunde für die logistische und soziale Organisation von Protesten, Demonstrationen und Petitionen genutzt wurde. Doch auch diese ist bereits nicht mehr aktiv.
Diese beiden - und noch weitere Beispiele - bringen die Autoren zu der Auffassung, dass eine Implementierung der e-Democracy weder eingleisig von “unten” noch von “oben” möglich ist, weshalb sie folgenden Lösungsvorschlag aufbringen:
Sie treten für die Schaffung einer Art “public agency” ein, unabhängig von der Politik als Vermittler zwischen partizipierenden Bürgern und den Repräsentanten der indirekten Demokratie als Intermediary fungiert. Die Agency sollte dabei öffentlich finanziert werden und mit Hilfe einer “selektiven Inklusion” die Meinungen interessierter Bürger bündeln und dann durch noch zu schaffende gesetzliche Rahmenbedingungen- und Maßnahmen durchsetzen.
Diesen Grundvorschlag nennen die Autoren “a more deliberative Democracy”, die sich im Gegensatz zu den sonst utopischen Ansätzen durch Pragmatik auszeichnen soll.
Im Grunde schaffen es die Autoren ziemlich plausibel die aktuelle Ausgangssituation und das Bedürfnis der Bürger nach einer deliberativen Demokratie darzustellen, vermögen es aber letztendlich nicht, Vorschläge zur Lösung des Problems aufzuzeigen, die praktisch möglich sind. Die Schaffung einer weiteren Repräsentationsstelle zwischen Repräsentanten und Wählern würde im Grunde genau zur Verschlechterung der Faktoren beitragen, die diese “bekämpfen” soll. Auch ist es merkwürdig, dass - obwohl das Buch 2009 veröffentlicht wurde - im Ganzen nur einmal kurz auf Social Networks und ihre Potentiale eingegangen wird, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass die Mehrheit der benutzten Quellen vor 2002 verfasst wurden. In wie weit nun das Buch nun zu einer Implementierung der deliberativen Demokratie beitragen kann, bleibt somit fraglich.