2.2 Kommunikationscharakteristika eines Chats
catharina.noack.salzburg, 23:44h
Bei der Online-Kommunikation handelt es sich um einen gleichzeitigen, indirekten Austausch von Botschaften, der über eine Entfernung stattfindet. Bezüglich der Synchronität könnte allerdings diskutiert werden, inwieweit die Verzögerung, die durch das Schreiben entsteht noch eine wirkliche Gleichzeitigkeit zulässt. Denn der eine tippt langsamer als der andere. Hinsichtlich der Tatsache, dass es sich um indirekte Kommunikation handelt, dürften allerdings keine Zweifel entstehen, auch wenn mancher Person der Chat sehr direkt vorkommen mag. Das Senden und Empfangen bei der direkten, realen Kommunikation (face-to-face) ist mindestens genauso synchron.
Die Teilnehmer sind nicht in der Lage, sich beim Kommunizieren zu sehen oder zu hören, wodurch alle nonverbalen und paraverbalen Kommunikationselemente wegfallen. Als nonverbale Elemente bezeichnet man die körperlichen Elemente wie Blickkontakt, Berührungen, Körpersprache, Körperhaltung und Ähnliches. Diese Elemente lassen Rückschlüsse auf das Gegenüber zu. Die paraverbalen Elemente sind diejenigen, die nur zu hören sind, wie Stimmlage, Sprechtempo oder Pausen. (vgl. OQ 2) Diese wesentlichen Elemente der Verständigung fehlen der Kommunikation im Chat. Deshalb wurden die sogenannten „Emoticons“ erfunden. Das sind bestimmte Zeichen, um im Chat seine Emotionen auszudrücken. Ausserdem haben sich im Chat Konventionen etabliert, wie das SCHREIEN (alles grossgeschrieben), oder Abkürzungen wie *lol* (= laughing out loud). Diese Kommunikationsarten, die über den wörtlichen Inhalt hinausgehen, können durchaus als äquivalent der nonverbalen Kommunikationselemente gesehen werden (oder zumindest den Versuch ihrer Kompensation).
Auch für die paraverbalen Elemente gibt es zumindest annähernde Entsprechungen, zum Beispiel die Intensität, mit der einem Gespräch gefolgt wird. Ein möglicher Charakterzug eines Chatter ist das ,,Lückenfüllen", das ständige Schreiben, um Pausen in der Kommunikation zu vermeiden, z.B. wenn einer nachdenkt.
Zu Bedenken ist dabei, dass der Einsatz von Emoticons und ähnlichen Stilmitteln immer bewusst erfolgt, d.h. ohne den ausdrücklichen Wunsch des Teilnehmers werden diese Informationen dem Gesprächspartner nicht mitgeteilt.
Eine Besonderheit bei der Chat-Kommunikation ist die Geschwindigkeit. Dies ist auf der einen Seite in der Kürze der Äußerungen und auf der anderen Seite in der Vielzahl von Orthographiefehlern zu bemerken. Die Orthographiefehler lassen auf eine hohe Tippgeschwindigkeit schließen. „Eine schnelle Abfolge der einzelnen Äußerungen zeigt sich besonders deutlich in der Zweiergesprächssituation. "Gesprächspausen" durch den Partner werden sofort durch eigene Äußerungen kompensiert. Häufig ist so kein stringenter Gesprächsverlauf mehr zu erkennen, da die Äußerungen nicht in direktem Bezug zu vorangegangenen stehen.
Beispiel:
37 ‹KR› mein vatter arbeitet dort jetzt, in einem il-de projekt..
38 ‹AE› ich bin ja auch rumgereist, aber nicht so lange
39 ‹AE› il-de?
40 ‹KR› und meine mom mit ihm dort. also ich gehe sie zu besuchen
41 ‹KR› israeli-german:)
42 ‹AE› ach so
43 ‹AE› was machstn du in Jerusalem, arbeiten, studieren?
44 ‹KR› also,was hast du in neve shalom gemacht?
45 ‹KR› alles. studieren in der uni
46 ‹AE› in neve shalom habe ich im Garten gearbeitet. Ich mußte Blumen pflanzen. Außerdem gab es ein paar Workshops
Thema 1: Tätigkeit von KRs Eltern
Thema 2: Israelaufenthalt von AE
Thema 3: Tätigkeit von KR
In diesem kurzen Gesprächsausschnitt werden drei verschiedene Themenkomplexe behandelt. KR bezieht sich in Zeile 37 auf eine vorangegangene Frage AEs, während AE in Zeile 38 auf eine andere Äußerung KRs eingeht. Gleichzeitig bezieht sich AE in Zeile 39 auf KRs Äußerung in Zeile 37. Ähnlich verhält es sich mit den restlichen Äußerungen. Beide Kommunikationsteilnehmer scheinen nicht abzuwarten, bis die Antwort des Gegenübers erfolgt. Dies ist darauf zurückzuführen, daß man sich in keiner Gesprächssituation völlig sicher sein kann, die volle Aufmerksamkeit des Partners zu erhalten. Es besteht immer die "nicht kontrollierbare Möglichkeit, daß einer der Teilnehmer sich unbemerkt gleichzeitig mit dritten unterhält.“ Durch eine schnelle Abfolge des Gesprächs wird versucht, die Aufmerksamkeit auf das Zweiergespräch zu lenken, um somit nicht durch einen unachtsamen Gesprächspartner von Kontrollverlust bedroht zu werden.“ (siehe OQ 3)
In einer körperlosen Welt, wie der des Chats, muss der Sprechende nur seinen Nickname von sich preisgeben. Alles andere bleibt ihm überlassen, er selbst ist also anonym. Durch die Anonymität wird es möglich, dem Gegenüber ein kontrolliertes Bild der eigenen Persönlichkeit zu vermitteln, also auch im Hinblick auf die eigene Identität zu lügen. (vgl. OQ 3) So kann es zu einem ungehemmteren Umgang miteinander kommen, da keine Äußerung direkt mit der realen Person in Beziehung gebracht werden kann. Im Umgang mit anderen Chattern kann es jedoch aufgrund der anonymen Gesprächssituation auch zu Schwierigkeiten kommen. So gibt es weniger kommunikative Kontexte als in der face-to-face-Kommunikation, an denen sich die Chatter bei der Einschätzung des Gesprächspartners orientieren könnten.
Grundsätzlich muss also immer die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass die Angaben der Teilnehmer bezüglich der dargestellten Identität nicht der Wahrheit entsprechen. Für den Gesprächspartner kann dies zu Kontrollverlust führen, wenn er sich auf die Angaben des anderen verlässt. Obwohl sich jeder Kommunikationsteilnehmer darüber im Klaren sein müsste, dass Hinweise des Gesprächspartners bezüglich der eigenen Identität nicht unbedingt der "Realität" entsprechen, wird dies häufig als Täuschung und somit als Vertrauensbruch empfunden. Das Bild, welches man sich in einem Chat voneinander macht, wird nicht durch Äußerlichkeiten wie Aussehen, Hautfarbe, Kleidung oder Alter beeinflusst. Es beruht nur auf dem, was tatsächlich gesagt wurde. Ist ein Chat also ein Ort, an dem Sympathie und Zuneigung aufgrund des Fehlens von optischen Eindrücken wirklich nur von den so oft zitierten ,,inneren Werten" abhängen? Dies ist zumindest eher als im realen Leben der Fall. Es lässt sich der Eindruck steuern, den man beim Gegenüber erwecken will. Der Fantasie wird Raum gelassen, sich zu entfalten und ein eigenes Bild zu erzeugen. Damit lassen sich auch die häufigen Schockerlebnisse von Internetbekanntschaften erklären, die sich zum ersten Mal in der Realität begegnen.
Eine weitere Besonderheit der Kommunikation im Internet ist die Fluchtmöglichkeit. (vgl. Semesterarbeit von Johanna Lederer: Soziale Kontakte im Chat – Internet: Eskapismusfunktion) In der Realität ist es kaum möglich, eine Frage einfach zu ignorieren, ohne dadurch in direkte Konflikte oder Peinlichkeiten zu geraten. Dies kann im Internet getan werden. Man kann Beiträge nicht beachten, den Chat verlassen oder einen Absturz vortäuschen. Diese gesicherte Rückzugsmöglichkeit macht es Menschen leichter, aufeinander zuzugehen, woraus eine Beschleunigung des Austausches von Botschaften folgt. Laut Barbara Becker führt dies bei den Beteiligten zu einer ,,Intensivierung der Kommunikation und der Beziehungen [...], weil sich in kürzester Zeit intime Gesprächssituationen und vermeintliche Freundschaften herausbilden." (siehe OQ 4) Hier klingt bei dem Wort ,,vermeintlich" schon die Skepsis bezüglich der Richtigkeit dieser Einschätzung durch. Die Unverbindlichkeit und Oberflächlichkeit der Online-Gespräche erzeugt nämlich nur den Schein von Vertrautheit und Authentizität, da man sich nie sicher sein kann, ob der Gesprächspartner auch nur annähernd der/die ist, der/die er/sie vorgibt zu sein. Der im Chat geschaffene Raum, der erst die ungewohnte Kontaktfreudigkeit der Teilnehmer sowie die Intensität der Verbindungen ermöglicht, bietet auch den Platz um das Selbst, dass in einem Chat gespielt wird, zu erproben. Es muss aber immer bedacht werden, dass dieser Raum ja eigentlich in einer großen Distanz zur realen Person liegt. Hier lasse sich als Beispiel anführen, dass Menschen, die sich das erste Mal im wirklichen Leben begegnen, oft sehr schockiert sind. In diesen Fällen wurde die Distanz zwischen den Figuren zerstört. Der Phantasie wurde kein Raum mehr gelassen. Es kann also nicht von wirklicher Nähe bei Kommunikation in Chatrooms gesprochen werden, da das Empfinden dieser Nähe nur aus der zugrundeliegenden Distanz und Anonymität rührt.
Wenn also (fast) jedes Gespräch in Chats ein oberflächliches bleibt, wie wirkt sich diese Tatsache dann auf jene User aus, welche die virtuelle Kommunikation als der realen Verständigung ebenbürtig erachten? Manche Menschen sehen das Chatten sogar als Fluchtweg aus der Unzulänglichkeit der eigenen Existenz.
Die psychologischen Aspekte des Chattens sollen nun genauer betrachtet werden. Zentrales Thema dieses Bereichs soll sein, wie realistisch das von Sherry Turkle entwickelte Modell des multiplen, fragmentarischen Ichs in einer Gesellschaft der Simulation ist.
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