ameisenhaufen
Sonntag, 25. Januar 2004
2.3.2 Folgen der Online-Kommunikation

Auf die Wünsche und Erwartungen des Individuums bezüglich der Online-Gespräche und die daraus resultierenden Folgen (Möglichkeiten und Gefahren), die Turkle sieht, soll im Folgenden eingegangen werden.

Turkle glaubt an eine fragmentarische Persönlichkeit des postmodernen Menschen. Ihrer Meinung nach, muss man von einem ,,multiplen Selbst" sprechen. Jeder Mensch hat eine Vielzahl von Identitäten und Teilidentitäten, die nur in bestimmten Konstellationen und Situationen zum Tragen kommen. Dieses Phänomen ist in weniger starker Ausprägung auch in der Realität zu beobachten. In der virtuellen Welt wird dem User bei der Gestaltung dieser Identitäten allerdings viel mehr Freiheit gelassen, da die körperliche Hülle im Chat nicht zum direkten Teil der Kommunikation wird. Zunächst soll die Gestaltung dezentralisierter Identitäten und deren Einsatz bzw. ihre Erprobung genauer betrachtet werden. Die User konstruieren die Rollen, die sie spielen wollen, also die einzelnen Persönlichkeiten immer wieder neu. Die Idee vom einheitlichen Ich ist für Turkle überholt. Das Internet gibt den Usern die Möglichkeit sich selbst in anderen Rollen zu erproben. Als Beispiel für diese dezentralisierte Auffassung des Selbst führt sie einen Windows-User an, der in den vielen verschiedenen Fenstern auf seinem Bildschirm jeweils eine andere Identität annimmt: ,,Ich spalte mich auf [...] ich kann selbst als zwei, drei oder mehr Jemande betrachten. " (siehe Turkle 1998, 16) Die extremste Form der Konstruktion eines anderen Selbst ist die des ,,genderswapping", das heißt, der Übernahme eines fiktiven Geschlechts. Die anonyme Gesprächssituation macht Experimente wie den Geschlechtertausch möglich. Dies bietet den Vorteil, Erfahrungen als Angehöriger des anderen Geschlechts zu sammeln, die im realen Leben nicht möglich wären.(vgl. Turkle 1998, 213) Dies gibt den Menschen die Möglichkeit, die starren Geschlechterschemata zu verflüssigen und sich aus den im Alltag vorgegebenen Rollen zu befreien. Für Turkle ist das für die Menschen eine Chance, mit verleugneten Seiten der eigenen Persönlichkeit umzugehen, diese zu erproben, und sie eventuell als eine Facette der eigenen ,,Gesamtidentität" zu akzeptieren. Wie weit dies gehen kann, zeigt ein weiteres Zitat eines Users: ,,Du kannst sein, was Du willst [...], dich völlig umkrempeln." (siehe Turkle 1998, 297) Dies wird dem User dadurch ermöglicht, dass er selbst entscheiden kann, wie viel er von seiner gerade avisierten Identität Preis gibt, und wie er diese Identität genau gestaltet. Einerseits kann er die physischen Merkmale, die er verrät, so manipulieren wie er will, andererseits kann er auch einfach diese Punkte offen lassen und so den Gegenüber zum Füllen dieser Leerstellen animieren.

Einen Grund für die Neukonstruktion der Persönlichkeit in der virtuellen Realität sieht Becker in der Flucht vor den realen sozialen und körperlichen Gegebenheiten (Flucht aus dem Körpergefängnis). „Die Körperlosigkeit im Netz ermöglicht erst die Erschaffung dieser verschiedenen Persönlichkeiten. In der realen Welt existieren die Körper als berührbare, physisch verletzbare Identitäten. Defizitäre Merkmale können kaschiert werden, z.B. körperliche Behinderungen oder auch Menschen, die sich als unattraktiv empfinden. Dies trifft also besonders auf Menschen zu, die ihren eigenen Körper als Hinderungsfaktor oder Ballast empfinden.“ (siehe OQ 4)

Nachdem die Körperlosigkeit und das multiple Selbst beschrieben wurden, stellt sich die Frage, wie sich all dies auf das reale Leben auswirkt. Ob die Online-Kommunikation Chancen oder Risiken birgt, und wenn ja für wen.
Ist also die Verwendung mehrerer Identitäten Ausdruck einer Identitätskrise, oder eher ein Zeichen, dass sich die heutige Welt mit dem Bild einer multiplen Persönlichkeit anfreunden muss? Wie nahe sind die Selbste der Online-Welten an den realen Personen? Sherry Turkle glaubt, dass die verschiedenen Rollen, die ein Individuum spielt, beliebig weit, von der ,,echten" Persönlichkeit entfernt sein können, solange die gemachten Erfahrungen nur reflexiv verarbeitet werden. Würden die einzelnen Persönlichkeiten nicht miteinander kommunizieren, so wäre eine vielfältige Persönlichkeit nicht gesund aufrechtzuerhalten. Sie geht davon aus, dass jemand der sich im Internet mit Freude bewegt, und die Erfahrungen in seine reale Identität einfließen lässt, von seinen Reisen in die Chats nur profitieren kann. Das Internet soll aber nicht als Fluchtweg zur Verdrängung von Problemen in der realen Welt genutzt werden.

Stephanie Schmaus sieht das anders. Denn auch in der Chat-Kommunikation ist eine Manipulation denkbar. Die Computertechnik kann dazu missbraucht werden, die Kommunikation anderer zu beeinflussen und indirekt Gewalt auszuüben. So wäre zum Beispiel der Einsatz eines Robots denkbar, der automatisch den Namen (Nickname) eines Chatters übernimmt, wenn dieser das Programm verlassen hat. Dem Chatter ist es dann nicht mehr möglich, beim erneuten Eintritt in den Kanal unter seinem bisherigen Nickname in den Gesprächsverlauf einzusteigen. Derartige "Übergriffe" sind allerdings nicht so harmlos, wie zunächst vermutet werden könnte. Der Name spielt nämlich häufig eine wichtige Rolle bei der Selbstdarstellung der Kommunikationsteilnehmer.
“Folgendes Beispiel macht die Bedeutung des Namens bezüglich der Erzeugung einer Chat-Identität deutlich.

Beispiel :

1 ‹Ora_› ora is my nick.
9 ‹Ora_› how long have you used ora ?
12 ‹ora› since a few months, sorry
13 ‹Ora_› ora has been my nick for over a year....
14 ‹ora› so you want me to change it?
15 ‹Ora_› if it would be possible for you to make some changes to it, it would mean a great deal to me
18 ‹Ora_› I used it so long that some of my friends might get you mixed up
Wenn es nicht mehr möglich ist, unter seinem Namen einem Kanal beizutreten, können Chat-Bekanntschaften den Kommunikationsteilnehmer auch nicht mehr erkennen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die bloße Übernahme des Namens als Kontrollverlust erfahren werden kann.“ (siehe OQ 3)

Der mögliche Nutzen der Internetkommunikation, der für Turkle außer Frage steht, ist also davon abhängig, ob die Menschen im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen lernen können, sinnvolle Verknüpfungen zwischen Virtualität und Realität herzustellen.

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4. Quellenangabe:
Buchquelle: Turkle, Sherry (1998). Leben im Netz....
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3. Persönliche Stellungnahme...
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