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Anonymität und Kurzlebigkeit in einer großen online Community

michael.goldbeck.uni-linz, 18. November 2015, 06:07

Täglich können wir in den Medien über die unaufhaltsam-scheinende Daten-Sammelbegierde von Internetgiganten wie Facebook oder Google lesen - mit dem schlechten Beigeschmack, dass es nur wenige Auswege für den einzelnen Nutzer gibt. Umso spannender ist es, wenn von Zeit zu Zeit erfolgreiche Gegenkonzepte auftauchen: der Forum Pionier 4chan, dessen Image-Board aufgrund der uneingeschränkten Anonymität sich noch immer größter Beliebtheit erfreut oder verschiedenste Messenger, die es Nutzern ermöglichen, wirklich “private” Nachrichten zu übermitteln.

 

Doch was macht 4chan so “speziell”? Warum setzt eine im Vergleich zu anderen Plattformen sehr kleine Community globale Trends im Bereich der Internetkultur? Diese und weitere Fragen versuchen Bernstein, Monroy-Hernández, Harry, André, Panovich und Vargas in ihrer Studie “4chan and /b/: Anonymity and Ephemerality in a Large Online Community” aus dem Jahr 2011 zu beantworten.

 

4chan and /b/: An Analysis of Anonymity and Ephemerality in a Large Online Community

Die Autoren starten mit der Aussage, dass für online Communities Identitätsrepräsentation und Archivierungsstrategien zentral sind. In der Literatur wird argumentiert, dass Klarnamen und Pseudonyme Vertrauen, Kooperation und Verantwortung fördern [Q1], Anonymität hingegen kann Kommunikation unpersönlich machen und Glaubwürdigkeit unterminieren [Q2 & Q3]. Branchengrößen wie Facebook argumentieren, dass Pseudonyme und mehrere Identitäten von einem Mangel an Integrität zeugen [Q4]. Suchmaschinen geben den Nutzern die Möglichkeit, auch nach Jahren der Veröffentlichung Inhalte noch zu finden, auf Social Networking Seiten wie Facebook können User die Chronik von anderen Usern oft nahezu uneingeschränkt einsehen. Manche Forscher [Q5] [Q6] haben genau diese Designansätze in Frage gestellt und argumentieren, dass anonymes Mitwirken sowie kurzlebige Partizipation wünschenswert wären.

 

Daher haben Bernstein, Monroy-Hernández, Harry, André, Panovich und Vargas das beliebte Bilderforum “4chan” analysiert. 4chan wurde aufgrund der Größe (7 Millionen Nutzer) sowie dessen einzigartiger Community ausgewählt; das Design der Plattform lebt nach den Credos Anonymität und Kurzlebigkeit. Beiträge werden standardmäßig anonym zur Verfügung gestellt und enthalten nur sehr selten Pseudonyme oder Identitätssignale. Des weiteren werden Konversationen nicht wie üblich archiviert, sondern von neueren Beiträgen verdrängt und dann gelöscht. Bekannt ist die Plattform durch deren Einfluss auf die online Populärkultur geworden, primär als Zentrum für sogenannte “Memes” wie “LOLcats” [Q7]. Auch das Mitwirken an der hacktivisten Gruppen “Anonymous” hat 4chan große Medienwirksamkeit gebracht.

 

Methode

Für die Studie haben die Autoren die Aktivitäten des beliebtesten Forums “/b/” - besser bekannt als “random” - für zwei Wochen analysiert: vom 19. Juli 2010 bis zum 2. August 2010 wurden 5.576.096 Beiträge aus 482.559 Threads gespeichert. Der Inhalt in “/b/” ist oft vorsätzlich angriffig, enthält rassistische, sexistische und homophobe Sprache und diskriminierend. Die Autoren halten fest, dass der Content aber auch witzig, offen und kreativ sein kann - die Sprache ist Teil der Gruppenidentität. Die Inhalte wurden in 9 Kategorien eingeteilt.

 

Bild 1: Inhaltstypologie der Threads auf /b/, Bernstein, M. S., Monroy-Hernández, A., Harry, D., André, P., Panovich, K. & Vargas, G. G. (2011)

Studie 1: Kurzlebigkeit

Aufgrund des Aufbaus der Community ist die Kurzlebigkeit im “/b/” Forum eine der herausragendsten Qualitäten. Die Threads erlöschen in so hoher Geschwindigkeit, dass mit fast jeder Aktualisierung die Seite anders ist - das Mittel der Lebensdauer eines Threads beläuft sich auf nur 3,9 Minuten. Der am schnellsten verschwindende Thread wurde in 28 Sekunden durchgereicht, der langlebigste Thread bestand 6,2 Stunden. Die langlebigsten Threads fielen primär in die Kategorie “Themed”, die Kurzlebigsten waren darüber hinaus weit gestreut. Aufgrund der sehr kurzen Lebenszeit bekommen die Großzahl aller Threads (43%) überhaupt keine Rückmeldungen, das Mittel sind 2 Beiträge pro Thread (Originaler Beitrag und eine Antwort).

 

Die Autoren erweitern die Analyse um 3 Sichtweisen:

  • First Page Only: Als primäre Anlaufstelle erhält die erste Seite des Forums am meisten Aufmerksamkeit. Im Mittel erhält jeder Beitrag 5 Sekunden auf der ersten Seite über seine Lebenszeit - der am schnellsten verschwindende Beitrag wurde in weniger als einer Sekunde von der ersten Seite gedrückt.

  • User Control over Ephemerality: Es gibt 2 Arten, wie Nutzer die Lebenszeit eines Threads zu manipulieren: Bumping und Sage. Beim “Bumping” schreibt ein Nutzer Phrasen wie “bump” oder “bumping” zum Thread, damit dieser wieder nach vorne gereiht wird. Die Autoren haben festgestellt, dass 2,16% aller Antworten “Bumping”-Schlagwörter enthalten.

  • Time of Day: Die Autoren halten fest, dass die Länge der Threads stark mit dem Traffic zusammenhängt. Threads halten zwischen 09:00 und 10:00 Uhr am längsten, werden zwischen 17:00 und 19:00 Uhr am schnellsten verdrängt. Hohe Aktivität wird bis 03:00 bzw. 04:00 Uhr gehalten; alle Zeitangaben in EST, da die Nutzerschaft primär aus Nordamerika stammt.

 

Die Autoren fassen zusammen, dass das “/b/” Forum aufgrund des schnellen Tempos und der Löschung des Inhaltes als kurzlebig wahrgenommen wird - täglich hat “/b/” rund 35.000 Threads und 400.000 Beiträge. Sie gehen davon aus, dass die Löschung des Inhalts die Communty des “/b/” Forums dahingehend drängt, schnelle Änderungen vorzunehmen und populäre Meme wie LOLcats zu produzieren. Es wird argumentiert, dass durch die fehlende Historie der Beiträge das “rich get richer” Phänomen [Q8] ausgeglichener wird und dadurch nur der “fitteste Meme” überlebt [Q9]. Daher argumentieren die Autoren, dass Kurzlebigkeit die Partizipation der Community steigern könnte. Die Praxis des “bumpings” in Kombination mit schnellen Antworten könnte die Nutzer dazu ermutigen, Content zu teilen.

 

Studie 2: Identität und Anonymität

In der zweiten Untersuchung der Studie haben die Autoren das gleiche Sample aus dem “/b/” Forum untersucht - dabei wurden die Metadaten der einzelnen Posts ausgewertet, um den Einfluss von Anonymität ausfindig zu machen.

 

Bernstein, Monroy-Hernández, Harry, André, Panovich und Vargas halten fest, dass es auf 4chan extrem ungewönlich ist, einen Beitrag mit dem eigenen Namen bzw. mit einem Pseudonym im “/b/” Forum abzusetzen. 90,07% (5.022.149) aller Beiträge werden mit dem Namen “Anonymous” abgegeben - die restlichen 10% nutzen eine weit gestreute Reihe von verschiedensten Nutzernamen. Noch ungewönlicher als Namen sind E-Mails Adressen; 98,3% aller Beiträge haben keine E-Mail enthalten. Von jenen, die eine E-Mail Adresse angegeben haben, waren 40,73% (39.725) keine richtige Adresse.

 

Der gängige Narrative rund um Anonymität impliziert, dass Communities von der Bereitstellung öffentlicher Identitäten profitieren - und das Anonymität aufgrund des “online disinhibition effect” [Q10] negativ wirkt. Die Autoren halten fest, dass das “/b/” Forum ein geschmackloser Platz ist, der antisoziales Verhalten aufweist. Anonymität erwirkt nicht nur Hemmungslosigkeit, sondern auch eine Deindividuation sowie Mob-Verhalten; User legen somit Verhalten an den Tag, dass sie in der offline Welt nicht tun würden (aufgrund der relativen Sicherheit, dass sich ihr Handeln nicht negativ auswirken wird). Laut den Autoren gibt es aber durchaus auch positive Effekte durch die inherente Anonymität der Plattform: bei Diskussions- und Frage-Threads kann Anonymität Schutz für intimere und offenere Konversationen bieten. Auch bietet Anonymität Anreiz zum Experimentieren, seien es neue Ideen oder Memes. Wie die erste Studie gezeigt hat, ist Scheitern ein wesentlicher Teil von 4chan: knapp die Hälfte aller Threads erhalten keine Rückmeldung. Anonymität maskiert dieses Scheitern und lindert den Schmerz des ignoriert werdens.

 

Identität und Status sind aber laut Bernstein, Monroy-Hernández, Harry, André, Panovich und Vargas nicht völlig abwesend; vielmehr gibt es eigenen Ausprägungen. Um hohen Status in der Community zu vermitteln, nutzen User vor allem textliche, linguistische und visuelle Zeichen. Neben Slang spielen vor allem Bildstile eine wesentliche Rolle. Diese ändern sich ähnlich wie Mode innerhalb gewisser Perioden - nach einer experimentellen Phase folgt eine verbreitete Verwendung, gefolgt von der Stillegung des Trends. Vor allem für neue Nutzer sind diese Zeichen ein wichtiger Bestandteil “Status” zu erreichen.

 

Abschließend halten die Autoren fest, dass die Praxis des schnellen Löschens / Verfallens des Inhaltes zu einer sehr dynamischen Community führt. Die Kurzlebigkeit und Löschung erzeugen gemeinsam einen starken Selektionsmechanismus, der zu schnellen Iterationen des Contens führt. Sie glauben, dass dieser Mechanismus für den Einfluss von 4chan auf die globale Internetkultur und Memes essentiell ist.

 

Kritik am vorliegenden Text

Ich habe dieses Paper von Bernstein, Monroy-Hernández, Harry, André, Panovich und Vargas ausgewählt, da ich mich schon seit geraumer Zeit mit dem Thema Community-Building auseinandersetze und 4chan eine der Koryphäen in dem Bereich ist. Kaum eine Community ist so umstritten und geliebt wie dieses Image-Board, kaum ein Forum so offen aber doch verschlossen wie 4chan. Meiner Meinung nach ist die Studie gut gelungen, da sie tief in die Materie eintaucht und vor allem gut auf die Vor- und Nachteile der jeweiligen Gesichtspunkte eingeht. Auch methodisch wirkt sie sehr durchdacht - mit einer 8-monatigen Beobachtungsphase und einem sehr großen Sample (über 5 Millionen Beiträge) wurde ein solides Fundament geschaffen.

 

Leider ist es oft bei “solide” geblieben - die gesammelten Daten hätten eine weitaus tiefere Betrachtung erlaubt, wurden aber nur oberflächlich untersucht. Auch werden die beiden wesentlichen Begrifflichkeiten “Anonymität” und “Kurzlebigkeit” nicht genauer definiert, dass meiner Meinung nach zu einem zu großen Interpretationrahmen führt. Weiters kann durchaus der Mehrwert der Studie in Frage gestellt werden - die Dynamik einer so einzigartigen Plattform ist zwar spannend, gleichzeitig können aufgrund der Individualität von 4chan nur schwer Schlussfolgerungen zu andere Plattformen - und schon schon garnicht auf andere Bereiche bzw. Branchen - geschlossen werden. Des weiteren können viele Beiträge der “Satire” zugeordnet werden; da zweideutige Inhalte nur schwer miteinander verglichen werden können, ist auch eine klare Auswertung der Daten ein wesentliches Problem.

 

Auch wenn diese Schönheitsfehler gegen die Studie sprechen, kann ich sie uneingeschränkt weiterempfehlen. Sehr spannend ist auch der direkte Vergleich zu den Ergebnissen der Studie "On the Internet, Nobody Knows You’re a Dog", die Patrick in seinem Beitrag vorgestellt hat. Im krassen Gegensatz zu 4chan sind die Nutzer von Twitter relativ offen mit ihren Identitäten - 67,9% sind identifizierbar. Um so spannender ist diese Zahl, da Twitter Pseudonyme erlaubt und es für mich daher logisch scheint, dass nicht zwangsläufig der richtige Name verwendet wird. Auch Manuel's Beitrag "Thema 5 - Kontrolle über eigene Daten in sozialen Netzwerken" steht in der Frage der Anonymität der Nutzer im krassen Gegensatz zu der hier vorgestellten Studie - wie Manuel in seinem persönlichen Resümee festhält, nimmt schon der Artikel den Grundsatz an, "dass die digitale Kommunikation besser ist, je mehr Daten die im digitalen Netzwerk auftretenden Personen über sich selbst preisgeben". Natürlich lassen sich die Netzwerke nur schwer vergleichen, Xing hat eine ganz andere Zielgruppe und Zielsetzung. Trotzdem ist der Grundtenor sehr spannend. Interessant ist auch, dass gerade die Gaming-Branche mit dieser Thematik zu kämpfen hat - darüber schreibt Michael in seinem Beitrag. Ich könnte mir persönlich sehr gut vorstellen, dass gerade diese Branche von einer ähnlichen Ausrichtung, wie es 4chan hat, profitieren würde bzw. zumindest die Gunst der Nutzer auf deren Seite hat.




[Q0] Bernstein, M. S., Monroy-Hernández, A., Harry, D., André, P., Panovich, K. & Vargas, G. G. (2011), 4chan and/b: An Analysis of Anonymity and Ephemerality in a Large Online Community, ICWSM, https://www.aaai.org/ocs/index.php/ICWSM/ICWSM11/paper/viewFile/2873/4398, zuletzt aufgerufen am 17.11.2015.


 

[Q1] Millen, D. R., and Patterson, J. F. (2003), Identity disclosure and the creation of social capital, In Proc. of CHI, 720–721.

 

[Q2] Hiltz, S.; Johnson, K.; and Turoff, M. (1986), Experiments in group decision making communication process and outcome in face-to- face versus computerized conferences. Human Communication Re- search 13(2):225–252.

 

[Q3] Rains, S. (2007), The impact of anonymity on perceptions of source credibility and influence in computer-mediated group communication: A test of two competing hypotheses, Communication Re- search 34(1):100.

 

[Q4] Kirkpatrick, D. (2010), The Facebook Effect, Simon & Schuster.

 

[Q5] Lampe, C., and Resnick, P. (2004), Slash(dot) and burn: distributed moderation in a large online conversation space, In Proc. of CHI, 543–550.

 

[Q6] Grudin, J. (2002), Group dynamics and ubiquitous computing, Com- mun, ACM 45(12):74–78.

 

[Q7] Rutkoff, A. (2007), With ‘LOLcats’ Internet Fad, Anyone Can Get In on the Joke, Wall Street Journal 25.

 

[Q8] Barabási, A., and Albert, R. (1999), Emergence of scaling in random networks, Science 286(5439):509.

 

[Q9] Sorgatz, R. (2009), Macroanonymous is the new microfamous, http://fimoculous.com/archive/post-5738.cfm, zuletzt aufgerufen am 16.11.2015.

 

[Q10] Suler, J. (2005), The online disinhibition effect, International Journal of Applied Psychoanalytic Studies 2(2):184–188.

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