"Kunst darf nicht nützlich sein" (Oscar Wilde)
Ich bin nicht sicher, ob ich Herrn Wilde da so bedenkenlos zustimmen kann. Wieso soll Kunst keinen Nutzen haben? Hat nicht alle Kunst einen gewissen Nutzen? Ab wann ist überhaupt irgendetwas "nützlich"? Gut, die Beantwortung dieser Fragen könnte unter Umständen jeglichen Rahmen sprengen, den ich mir im Zuge eines Kurzstatements notgedrungenerweise setzen muss. Daher sollen diese Fragen vorerst im Raum stehen.
Kunst und Usability verbinden sich im Schlagwort der Applied Arts. Design und Ästhetik werden mit den funktionalen Eigenschaften der Gegenstände täglichen Gebrauchs verbunden (1). Es entstehen verbessere oder veränderte Produkte. Beinahe jedes Produkt hat diesbezüglich eine Entwicklung durchlebt. Auch der Web!
Zunächst könnte man die Behauptung aufstellen, dass in den 1990ern nur wenige wirkliche "Webdesigner" an sich existiert haben. In den 1990er-Jahren navigierte sich der User bzw. die Userin zwar durch Websites, welche zumeist einem gewissen Layout-Standard folgten (Frames, Tabellen, etc.), jedoch kam erst mit der zunehmenden Lesbarkeit der Cascading Style Sheets (kurz: CSS) durch die anerkannten Browser dem Aussehen ein wesentlicher Faktor zu. Erst dadurch gelang es, die gestaltertische Ebene von der Information zu trennen - eine Entwicklung weg von der Informationsquelle, hin zum Design.
Nothing new under the sun?
CSS ist allerdings auch schon ein alter Hut und bereits im Jahr 2004 waren die Stylesheets auch im erweiterten Spektrum der Hobby-Webseitenersteller keine abenteuerliche Neuheit mehr. Andererseits drängen seit geraumer Zeit mit den verschiedenen Tablets, Mobiltelefonen weitere immer leistungsstärker werdende Geräte auf den Markt, welche im Bezug auf das Handling einer Website wiederum größeren Einfluss hatten.
Somit rückt - auch durch die wesentlich stärkere Verbreitung internetfähiger Endgeräte - der Faktor Usability noch einmal ein bisschen mehr in den Vordergrund. Der Web muss sich an die breite Masse anpassen, und die breite Masse möchte sich mit den technologischen Prozessen einer Website nicht auseinandersetzen. Sie interessiert nicht, mit welchen Möglichkeiten die Website aufgebaut ist oder ob für die Erstellung gewisser Inhalte HTML 5 oder Flash angewandt wurde. Die breite Masse möchte kurze Ladezeiten und eine kinderleichte Navigation.
Somit kommen wir zum Kern der Sache: Die technologische und die künstlerische Ebene erfahren eine immer stärker werdende Verbindung, welche letzten Endes das Design, die Usability des Webs definiert. Nicht zuletzt aufgrund dessen kehren viele Webdesigner zu ganz grundsätzlichen Designs zurück.
Soll bedeuten, dass nach all den Jahren der Versuche, den User an das Interface einer Website heranzuführen, letzten Endes zum Gegenteil geführt haben: Der Web entwickelt sich in ein leicht verständliches visuales Spektakel, das dem User in seiner Einfachheit allerdings vertraut ist bzw. vorkommt.. Vorausgesetzt wird lediglich ein zumindest nicht-steinzeitlicher Browser. Einige Beispiele (2):
- Magazinartige Gebilde (vertikale Navigation über Richtungspfeile auf der Tastatur)
- Liebevoll eingerichtete One-Page-Websites (HTML 5 und CSS 3, kein Flash)
- Designerportfolios
- Simple Social Media Hubs (viele Unternehmen entfernen sich von der starren Webpräsenz)
Was kommt danach?
Die gestalterischen Möglichkeiten für Webseiten sind mittlerweile vielfältig und nähern sich langsam dem an, was sich der technisch unversierte Mensch in einer zweidimensionalen Darstellungsweise vorstellen kann. Doch ist das gleichzeitig auch die Krone der Schöpfung? Ist die Entwicklung des Web damit abgeschlossen?
Diese Frage kann nur verneint werden. Auch im Jahr 2012 ist der Web, um wirklich als für den Menschen vollständig natürlicher Raum wahrgenommen zu werden, noch gewissen Restriktionen unterworfen. Stichwort hierbei ist die Zweidimensionalität der Darstellung. Über die letzten Jahrzehnte wurden Wege gesucht, um Informationen auf möglichst elegante Weise auf einer glatten Fläche zu projizieren. Der nächste logische Schritt muss und wird also der Wandel zweidimensionaler Darstellungsformen zu bzw. Unterstützung durch die dritte Dimension. Zwei der für mich persönlich bedeutendsten Begriffe diesbezüglich: Augmented Reality & Motion Sensing.
Augmented Reality
Augmented Reality ist kein neuer Gedanke. Bereits in der Novelle "The Master Key" von Frank Baum (bekannt durch "The Wonderful Wizard of Oz" wird von einer Brille gesprochen, welche den Personen die tatsächlichen Charakteristika von der Stirn ablesen lässt (Auszug aus dem Originalwerk). Erste realistische Ansätze lassen sich dann allerdings erst ab den 1950ern erkennen, etwa durch das Sensorama oder erste Versuche des Head Mounted Display. (3)
Erst durch die graduelle Entwicklung eines flächendeckenden Internetzugangs und der Verbesserung der elektronischer Endgeräte lässt sich dieser Gedanke erstmals auf realistischer Ebene diskutieren. Und so entstehen, wenngleich diese Entwicklungen in vielerlei Hinsicht nicht unproblematisch zu sehen sind, erneut Gedanken über die Möglichkeit der Implementierung der Augmented Reality in das Alltagsleben. Sei es durch die Verwendung mobiler Endgeräte oder durch Brillen.
Die beiden ehemaligen Studenten der Bezalel Academy of Arts and Design, Jerusalem, Eran May-raz and Daniel Lazo führen die Spirale in ihrer Abschlussarbeit weiter und halten mögliche Entwicklungen in ihrem futuristischen Shortfilm "Sight" (2012) fest:
(Video: http://www.youtube.com/embed/oPMggzUlcDc)
Weitere interessante Videos:
Motion Sensing
Vermutlich verwenden Sie gerade eine Maus, ein Touchpad oder den Touchscreen Ihres Tablets, um sich in diesem Blog zu navigieren. Und wahrscheinlich halten Sie die Bewegungen für natürlich und unkompliziert. Doch überlegen wir kurz: Legen wir einer technisch völlig unbedarften Person eine Computermaus in die Hand, wird sie zunächst bekannte Bewegungen ausführen und die Maus bewegen. Spätestens beim Unterschied der Funktionen der rechten und der linken Maustaste werden Erklärungen notwendig. Gestengesteuerte Tabletanwendungen sind eine Weiterentwicklung, hinken in manchen Fällen dennoch.
Eine wesentlich natürlichere Variante der Navigation könnte das sogenannte "Motion Sensing" bzw. "Motion Detecting" darstellen. Wie der Augmented Reality-Gedanke ist auch diese Idee nicht neu und durchaus bereits durchgeführt worden (wir alle kennen die automatischen Lichtschalter), jedoch haben die technischen Vorzeichen hier wiederum einen weiteren Sprung ermöglicht.
Es stellt sich also die Frage, wie natürlich ein Mausklick wirklich ist bzw. ob dieser für die Navigation im Web überhaupt notwendig sein muss. Frühe Science-Fiction-Filme sahen bereits sprach- und bewegungsgesteuerte Geräte vor. Und die moderne Entwicklung schafft laufend weitere Schritte in diese Richtung. Als Beispiel soll das Produkt "Kinect" von Microsoft genannt werden, welches zunächst eigentlich zur Integration in Videospielen angedacht war, jedoch eine gewisse Eigendynamik nahm, welche sich die Firma wiederum zunutze machte:
(Video: http://www.youtube.com/embed/CEqQoC6HlHc)
Conclusio
Der nächste logische Schritt muss und wird also der Wandel zweidimensionaler Darstellungsformen zu bzw. Unterstützung durch die dritte Dimension. Dies stellt übrigens einen weiteren Einfluss der Kunst auf die Entwicklung dar: Bereits in frühen Science-Fiction-Filmproduktionen wurden sprach- bzw. gestikgesteuerte Technik und Hologramme verwendet. Freilich sind wir auch im Jahr 2012 noch nicht am Ende angelagt: Die Gestiksteuerung wirkt teilweise ungewohnt und die Sprachsteuerung ist noch nicht ganz so selbstverständlich.
Jedoch lässt sich erkennen, dass Ideen, welche bereits vor vielen Dekaden erste Formulierungen fanden, nun mehr und mehr in die Realität integriert werden. Ganzklar, durch die natürliche Steuerung werden neue Märkte erschlossen und eine höhere Anzahl Personen an die moderne Technik herangeführt. Und dieser wirtschaftliche Anreiz bringt freilich einen technologischen Fortschrittswettkampf, der an dieser Stelle wohl nicht weiter erklärt werden muss.
Quelle 1: http://en.wikipedia.org/wiki/Applied_arts
Quelle 2: http://onepagelove.com/
Quelle 3: http://en.wikipedia.org/wiki/Augmented_reality
Alle Links wurden zuletzt am 20.10.2012 abgerufen.
Der Kurzfilm "Sight" war ganz inspirierend. Aber ich fände es ziemlich gruselig, wenn in Zukunft alle solche Augen hätten. Irgendwie kann ich mir das schwer vorstellen, dass ein Teil dessen, was wir sehen, für digitale Informationen draufgehen. So auch bei den Google Glasses. Immerhin würde es ja zum Beispiel auf der Straße viel öfter zu Unfällen kommen wenn man nur einen Bruchteil sieht.
Google Glasses Project (http://www.youtube.com/watch?v=JSnB06um5r4)
Aber faszinierend finde ich das schon alles und bin gespannt wie es sich in der Realität entwickeln wird.
In meinem Blogeintrag habe ich mich mit Minimalismus und Applied Art beschäftigt.
Inhalt und Form Ihrer Beiträge passen zusammen. Danke für Ihren inspirierenden Input.
Hallo Sascha,
Sehr interessanter Beitrag. Ich habe übrigens meine Master Thesis zu mobilen Augmented Reality Anwendungen geschrieben, daher war dein Artikel besonders lesenswert und es hat sich wieder einmal bewahrheitet dass man nie ausgelernt hat
"'The Wonderful Wizard of Oz' wird von einer Brille gesprochen, welche den Personen die tatsächlichen Charakteristika von der Stirn ablesen lässt"
...das habe ich nämlich noch nicht gewusst. Und eine tolle Analogie zwischne Kunst und zukünftigen Anwendungen (davon habe ich auch noch ein paar in meinem Blog). Zu dem Satz ist mir spontan ein Bild in Erinnerung gekommen: ein fiktiver Screenshot des "Viewdle" SDK, einer Technologie für zukünftige AR Anwendungen.