Menschliche und technische Netze und Gedächtnisse

Elisabeth.Klein.Uni-Sbg, 16. Mai 2011, 16:50

Im Videoausschnitt über die öffentlichen Sitzung der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, welchen wir in der letzten LV Sitzung gesehen haben, erzählt Dr. Peter Kruse, dass er lange Zeit als Neuropsychologe tätig war und sich – wie er selbst sagt – mit der frühsten Form von intelligenten Netzen, nämlich dem Gehirn und wie es funktioniert, beschäftigt hat. Nun handelt es sich beim menschlichen Gehirn ebenso wie beim Web um große, komplexe und auf erstaunliche Art und Weise funktionierende Netze und auch Gedächtnisse, denn das WWW fungiert, wie wir uns ebenfalls in der letzten Einheit erneut bewusst machen mussten, als ein großer kollektiver Speicher, in dem alle Daten und Schritte gesichert werden.
Daher möchte ich mich in diesem Beitrag mit der Frage befassen, in wie weit man menschliche und technische Netze und  „Gedächtnisse“ miteinander vergleichen kann bzw. ob technische Gedächtnisse in der Lage sind menschliche zu ersetzen. Dabei bewege ich mich in einem kultur- und kommunikationswissenschaftlich sehr interessanten und relevanten Forschungsbereich, nämlich dem des kollektiven Gedächtnis.

 

Was bedeutet kollektives Gedächtnis?

Kollektives Gedächtnis kann als gemeinsame Gedächtnisleistung einer ganzen Gruppe verstanden werden. Nicht nur Individuen können ein Gedächtnis besitzen, sondern auch eine Gruppe von Menschen oder ein ganzes Volk sind im Stande, eine gemeinsame Gedächtnisleistung zu besitzen. Das kollektive Gedächtnis nimmt, mit Blick auf die kulturelle Vergangenheit, Bezug auf die gegenwärtige sozialen und kulturellen und bildet ein gemeinsames Wissen und Selbstverständnis dieser Gruppe.
Besonders in den 1980er Jahren hat das Thema aus mehreren Gründen einen großen Aufschwung erfahren. Eine der Ursachen für die Konjunktur des Gedächtnis- und Erinnerungs-Paradigmas sind tiefgreifende Veränderungen im Bereich der Medien, wodurch zahlreiche neue Möglichkeiten entstanden.

 

Bedeutung neuer Medientechnologien für das kollektive Gedächtnis

Neben traditionellen Medien der Vergangenheitsrepräsentation (z.B. semi-fiktionale Filme wie Schindlers Liste und Pearl Harbour, TV-Dokus oder Autobiographien) nehmen vor allem neuere Medientechnologien im Kontext des kollektiven Gedächtnisses eine wichtige Rolle ein. Computer ermöglichen ungeahnte Speicherkapazitäten und das Web hat sich zu einer Art globalen Mega-Archiv entwickelt. Durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien kann nicht nur eine unglaublich große Menge an Informationen gespeichert werden, sondern diese werden auch dauerhaft abgespeichert, können also nicht mehr vergessen werden.

 

Menschliche und technische Gedächtnisse im Vergleich

Durch die Entwicklung von modernen Medientechnologien hat sich auch ein neues Forschungsfeld im Rahmen der Gedächtnisforschung entwickelt, welches sich mit der Frage nach der Bedeutung von Speicherung von Wissen durch Computertechnik beschäftigt. Diese Disziplin befasst sich unter anderem mit den Möglichkeiten, welche durch den technischen Wandel entstehen sowie mit den Unterschieden zwischen menschlichen und technischen bzw. elektronischen Gedächtnissen. Handelt es sich bei künstlicher Intelligenz um eine Abbildung oder vielleicht sogar eine Optimierung des menschlichen Gedächtnisses? Kann man dadurch etwa sogar auf menschliche Gedächtnisse verzichten?

Untersuchungen haben ergeben, dass Modelle von storage und retrieval, sprich vom Speichern und Wiederabrufen von Informationen, wie es bei technischen Gedächtnissen der Fall ist, ganz und gar nicht der Funktionsweise organischer Gedächtnisse entspricht. Menschliche Gedächtnisse sind keine Speicher, in die man Daten und auch Erinnerungen eingibt und dann zu einem späteren Zeitpunkt originalgetreu wieder abrufen kann, wie man es von einer Maschine oder einem Computer erwarten würde. Erinnerungen sind niemals objektive Abbilder vergangener Wahrnehmungen und Ereignisse oder der erlebten vergangenen Realität, sondern es handelt sich dabei um sehr subjektive und hochgradig selektive Rekonstruktionen der Wirklichkeit. Woran man sich wie erinnert hängt stark von den „Abrufenden“ und auch der Abrufsituationen ab.

Abb.: technische vs. menschliche Gedächtnisse

 

Fazit

Technische Gedächtnisse bzw. Netze bringen gegenüber menschlichen Gedächtnissen natürlich einige große Vorteile mit sich (vgl. Abb.). Die Speicherkapazitäten sind enorm, die Daten originalgetreu und objektiv abrufbar und es besteht nicht die Gefahr eines Vergessens. Sie sind jedoch zu einem nicht in der Lage: sie können keine Emotionen „speichern“ und transportieren – Menschen schon. Eine Maschine kann Erinnerungen nie auf dieselbe Art und Weise wie eine Person erzählen. Ein Gespräch mit den Großeltern über die Zeit von anno dazumal ist eine völlig andere und viel persönlichere Erfahrung als das Nachlesen von Inhalten im Web. Durch das Aussterben von Zeitzeugen und die Fülle an Informationen und Daten, kommt man um die Verwendung von technischen Speicher-Gedächtnissen nicht herum. Wie bereits erwähnt, eröffnen sich dadurch zwar viele neue und besonders wichtige Möglichkeiten, jedoch werden sie auch Zukunft das menschliche Gedächtnis nicht ersetzen können. Im Idealfall ergänzen sich beide gegenseitig.

 

Literatur

Assmann, Jan (1988): kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität: In: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M: Suhrkamp, 9-19.

Assmann, Jan (2007): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Auflage. München: C.H. Beck.

Erll, Astrid (2005): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler.

Erll, Astrid (2008): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. In: Nünning, Ansgar/ Nünning, Vera (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart: Metzler, 156-185.

Luger, Kurt (2008): Welterbe-Tourismus. Ökonomie, Ökologie und Kultur in weltgesellschaftlicher Verantwortung. In: Luger, Kurt/ Wöhler, Karlheinz (Hg.): Welterbe und Tourismus. Schützen und Nützen aus einer Perspektive der Nachhaltigkeit. Wien: Studien-Verlag, 17-42.

Oesterle, Günter (Hg.) (2005): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Wagner, Gerhard (2008): kulturelles Gedächtnis versus Verhandlung. In: Luger, Kurt/ Wöhler, Karlheinz (Hg.): Welterbe und Tourismus. Schützen und Nützen aus einer Perspektive der Nachhaltigkeit. Wien: Studien-Verlag, 71-85.

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