Identität + Internet = Virtuelle Identität?

marion katharina.kitzberger.uni-linz, 10. Dezember 2014, 14:58

Nicola Döring, Forum Medienethik Nr 2/2000. Münschen 2000. S 65-75.

 

Zusammenfassung

Unter virtueller Identität verstehen wir die Selbstpräsentation in elektronischer Kommunikation, die mehr oder weniger stark von der Offline-Variante  abweichen kann. Dass die Bewertung spontan eher negativ ausfällt, liegt vermutlich an der medialen Berichterstattung. Fälle, in denen Scheinidentitäten in betrügerischer Absicht angenommen werden, finden sich immer wieder etwa in der Presse und sind Ausgangspunkt für sicher auch berechtigte Warnungen und Mahnungen zu Vorsicht. Dass virtuelle Identitäten einen wichtigen und sinnvollen Beitrag zur Selbstfindung leisten können, ist sehr viel weniger öffentlich präsent. Nicola Döring (Q1) zeigt die kontroversen Positionen auf.

 

 Virtuelle Identität als Scheinidentität

Hinter einem Nickname verborgen, (relativ) anonym und unsichtbar, ist es möglich, schlicht großartig zu sein, vom jeweils anderen Geschlecht und/oder in einer fremden Rolle zu agieren.

Die Gründe dafür sind vielfältig, unter Umständen entspringt der Identitätswechsel tatsächlich einem kriminellen Impuls. Döring (Q1, S 2ff) führt dazu im Wesentlichen drei Themenfelder an: Kindesmissbrauch, Beziehungsschwindel und private Spionage.

Erwachsene geben sich in Chats als gleichaltrige Kinder aus um diese in weiterer Folge in unterschiedlichster Form auszubeuten. Online Romanzen, bei denen sich erst nach Wochen, nachdem bereits emotionales, womöglich zusätzlich finanzielles Engagement entstanden ist, zeigt, dass das begehrte Gegenüber im Real Life in keiner Weise der Web-Identität entspricht, können sehr schmerzhafte Erfahrungen sein. Es sind auch Mordfälle bekannt geworden, bei denen Opfer und Täter einander im Netz unter einer Scheinidentität  kennen gelernt haben. Sich unter falscher (geschlechtlicher) Identität in ein Forum einzuschleichen, um dort das Verhalten zB des Beziehungspartners  auszuspionieren, ist so gesehen eine vergleichsweise harmlose Täuschung.

 

Identitätsprüfung

Döring empfiehlt  im vorliegenden Artikel  „…die individuelle Lebensgestaltung  lieber auf authentische Begegnungen außerhalb des Netzes zu konzentrieren anstatt zu viel Zeit in virtuellen Scheinwelten zu vergeuden.“ (Q1, S4)  Darüber hinaus verweist sie auf die Möglichkeit, nach Spezialwissen zu fragen um Scheinidentitäten (Fakes) zu entlarven und nennt den Psychologen John Suler, von dem 1999 ein entsprechender Fragebogen entwickelt wurde. Angebracht ist es generell, erhaltene Informationen offline zu überprüfen – vom Austausch von Telefonnummern für Rückrufe bis zum Einschalten einer Detektei.

 

Virtuelle Identität als Identitätsarbeit

Dem (General)Verdacht der gezielt betrügerischen Scheinidentitäten steht  die These betont selbstoffenbarenden Identitätskonstruktionen  gegenüber. Geschützt hinter erfunden Namen, unsichtbar und daher aufgrund spezieller optischer Merkmale nicht einer Gruppe /einer Rolle zuordenbar, können ehrlich Emotionen geäußert aber auch unbeeinflusst von Zusatzinformationen wahr- und ernst genommen werden. Fachkompetenz wird als solche anerkannt, unabhängig davon, ob die reale Person  im Hintergrund  13 oder 30 Jahre alt ist.

 

Anonymität im Netz ermöglicht es, Persönlichkeitsanteile, die im Alltagsleben nicht ausgedrückt werden können, auszuleben. Es ist an Menschen mit besonderen Merkmalen (Hautfabe, Alter, Attraktivität, sozialer Status, Handicaps) , die zu bestimmten und meist recht starren Rollenzuschreibungen  führen, zu denken, die bestimmte Verhaltensweisen offline als lächerlich, unpassend, peinlich erscheinen ließen. Döring führt als Beispiele Führungskräfte an, die sich in Mailinglisten zur Depressionsberatung eintragen oder Jugendliche aus ländlichem Bereich, die an Chats für Schwule und Lesben teilnehmen. Der Schutzraum jenseits des Alltagslebens kann eine authentischere Identität zeigen und ein ComingOut vorbereiten. Auch das nach Döring weit verbreitete Phänomen des GenderSwappings, also der Geschlechtswechsel in der virtuellen Identität, ist in diesem Licht positiv zu sehen. Der Geschlechtswechsel lässt Frauen in Kontakt kommen mit ihrer männlichen, traditionell aggressiv-dominanteren Seite während Männer auf diesem Weg die sanfter-emotionalen Persönlichkeitsanteile (weiter)entwickeln.

 „In der eigenen Identitätskonstruktion nicht auf wenige, an Äußerlichkeiten festgemachte Rollen fixiert zu sein, sondern sich gemäß eigenen Gefühlen und Interessen flexibel neu zu entwerfen, ist mehr als ein unterhaltsames Geschellschaftsspiel.“ (Q1, S 9)

 

Internet als soziales Lernumfeld

Unsere Ära der Postmoderne ist unter anderem gekennzeichnet von der Auflösung vorgefertigter, übernehmbarer Lebensentwürfe und fester Identitäten. Die diversifizierten Umwelten und Lebenswege (vgl. Keupp & Hofer 1997 nach Q1, S 9 ) fordern eine persönliche Rollenflexibilität, die speziell im Netz via Identitätskonstruktion erprobt werden kann. In diesem Sinn ist das Internet ein günstiges soziales Lernfeld.

 

Weiter führende Überlegungen

Der Begriff „virtuelle Identität“, jedenfalls soweit er sich auf eine vom Offline-Leben abweichende Identität bezieht, umfasst zwei Bedeutungsebenen: Selbstmaskierung einerseits, Selbstenthüllung andererseits. Entsprechend polarisiert sind die Beurteilungen. Beiden Wertungen liegen vor allem Einzelfälle zugrunde. Eine realistischere Einschätzung des Chancen/Risiken-Potentials würde die Betrachtung eines repräsentativen Querschnitts aller NutzerInnen erfordern.

Zusätzlich ist zu beachten, dass die oben dargestellten Identitätskonstruktionen nur einen Ausschnitt der IT-gestützten Kommunikation beleuchten. In beruflichem Umfeld bzw. überall, wo die Technik gestützte Kommunikation die face-to-face –Kommunikation ergänzt, hat das Spiel mit Identitäten naturgemäß keinen Platz.

 

 

Persönliche Sicht

Der Artikel ist bereits 14 Jahre alt, er stammt aus der Zeit vor Facebook. Ich habe mich entschlossen ihn trotzdem vorzustellen, weil die Kernaussagen, dass Identitätskonstruktionen ungünstig ebenso wie günstig sein können, unverändert gelten, mE sehr gut gegenübergestellt aufzeigt und insofern das Thema der Aufgabenstellung perfekt trifft.

Zum aufgezeigten Gefahrenpotential durch Scheinidentitäten - ich behaupte, dass das Offline-Leben nicht wesentlich ungefährlicher ist. Nützlich zur Klärung wäre eine Kriminalstatistik aus der hervor geht, in welchem Anteil webbasierte Kommunikation tatsächlich ursächlich für ein Verbrechen war.

Ergänzenswert scheint mir schließlich, dass nicht zuletzt durch facebook die virtuelle Welt näher an die reale heran gerückt ist, dass Identitäten wirklichkeitsnäher wenn auch möglicherweise idealisierender, angelegt werden. Eine Untersuchung über allfällige Veränderungen der Identitätskonstruktionen in Chatrooms parallel zur Verbreitung von Facebook wäre interessant.

 

Link zum Originalartikel Q1: http://www.lmz-bw.de/fileadmin/user_upload/Medienbildung_MCO/fileadmin/bibliothek/doering_identitaet/doering_identitaet.pdf

letzter DL 10.12.2014 (14:50)

 

 

 

3 comments :: Kommentieren

Selbsterkundung

birgit maria.kohl.uni-linz, 10. Dezember 2014, 16:16

In meinem Artikel "Identität 2.0" haben die Autoren T. Mentler und M.C. Kindesmüller im Zusammenhang der Selbsterkundungsthese Bezug auf den von dir vorgestellten Artikel genommen. Dabei ging es insbesondere darum, dass durch die einfacherer Informationsbeschaffung und Austausch mit anderen Usern im Web ein positiver Einfluss auf die Selbsterkundung entsteht.

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multiplen virtuellen Identitäten

balazs.szaradics.uni-linz, 11. Dezember 2014, 11:49

In meinem Artikel von Ernst Silbermayer habe ich über spielende Mensch und ihre multiplen virtuellen Identitäten geschrieben.

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Persönlichkeitswahrnehmung durch ein Facebookprofil

sarah.hinterreiter.uni-linz, 11. Dezember 2014, 16:37

Auch in meinem Beitrag habe ich mich mit der virtuellen und der wirklichen Identität von Facebook Usern befasst. Da viele Facebook User, online wie auch offline einen ähnlichen Freundeskreis haben, ändert sich die Wahrnehmung (laut der Studie) der Offline Persönlichkeit verglichen mit der Online Persönlichkeit kaum.

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