Virtuelle Identitäten sind vielfältig. So beschränkt sich die virtuelle Identität eines anonymen Chatusers lediglich auf die Angaben, die er im Profil veröffentlicht, während der Nutzer eines sozialen Netzwerks in vielen Fällen gar nicht mehr die Kontrolle über die Daten hat, die verarbeitet und über ihn preisgegeben werden. Eine virtuelle Identität kann allerdings auch eine sein, die der eigenen Person eigentlich überhaupt nicht entspricht. Wenn wir uns in einem Onlinespiel anmelden, dann werden nicht zwingend Teilidentitäten von uns preisgegeben, sondern theoretisch ganz neue erschaffen: In der Realität bin ich Mensch, männlich, weiß, mittelgroß, durchschnittlich gebaut und in meinen Zwanzigern. Im Spiel bin ich ein Fabelwesen, grün, riesig, muskulös und langjährig kriegserfahren. Aber auch diese Identität bin ich, und andere nehmen mich durch diese wahr. Ich habe einen Avatar, der Dinge über mich als Person verrät, obwohl für mein Gegenüber eigentlich nichts anderes sichtbar ist.
Die wesentlichen Punkte
Die Autoren Manninen und Kujanpää versuchen in ihrem Artikel "The value of virtual assets–the role of game characters in MMOGs" eigentlich, den wirtschaftlichen Wert von virtuellem Vermögen zu messen bzw. die virtuelle Ökonomie zu erforschen. Um dies zu erreichen, wird die individuelle Bindung zum Spielercharakter beleuchtet: Wie weit sind diese Identitäten voneinander entfernt? Welche Bindung existiert zwischen meinem realen und virtuellen Ich? Was ist der Wert einer virtuellen Identität in einer Onlinecommunity?
Manninen und Kujanpää beschränken sich in ihrem Artikel auf grafische MMOGs, führen aber in ihrer Aufzählung auch virtuelle Welten wie Second Life an. Das Beispiel von Second Life wird von der Kollegin Leherbauer ausführlicher erläutert. Einen gewichtigen Teil der Untersuchung spielt allerdings das bekannte Rollenspiel World of Warcraft.
Das gemeinsame Onlinespielen wird von den Autoren als soziale Interaktion bezeichnet, das zahlreichen sozialen Spielregeln der physischen Welt folgt. Der soziale Faktor kann hierbei so groß sein, dass er zu einem Hauptgrund für den Erfolg des Spiels wird. Soziale Interaktion ist ein Schlüsselfaktor zum Aufstieg innerhalb eines Spiels, was Avatare bzw. Spielercharaktere in den Vordergrund rückt. Diese machen den Hauptunterschied der physischen und virtuellen Welt aus. Es wird in den meisten Fällen ein Avatar benötigt, um am MMOG teilnehmen zu können. Dies ist mitunter auch auf das Prinzip des Spielercharakters in klassischen Pen-&-Paper-Rollenspiels zurückzuführen.
Jeder direkte Eingriff in die Spielwelt, jede Interaktion findet durch den Charakter statt. Der Avatar (und sein Name) ist das, woran der Spieler erkannt wird. Er wird gelesen und interpretiert: Andere Spieler nehmen die Bewegungen und Handlungen wahr und reagieren auf die visuellen Hinweise des Avatars. Dies führt zu einer Beziehung mit dem eigenen und anderen Avataren. Die Spieler beginnen, ihren Charakter als zweite Rolle bzw. Identität wahrzunehmen, sich um diesen zu kümmern, indem man ihm spieldienliche Gegenstände wie Waffen oder Rüstung, oder aber auch nur Dekorationsgegenstände für das virtuelle Eigenheim zukommen lässt. Es kann sein, dass sich Spieler einloggen, um mit anderen Spielern zu chatten, ohne das Spiel selbst zu spielen.
Die Autoren greifen bei der Bestimmung der Wertigkeit des virtuellen Charakters auf drei einander teilweise überlappende Hauptkategorien zurück: Leistung (achievement), Soziales (social) und das Eintauchen in die Spielwelt (immersion) (1):
- Der Faktor Leistung beinhaltet den Umstand, dass der Spieler seinen Charakter vom schwachen Anfänger mit niedrigem Level durch das Töten von Gegnern, dem Erfüllen von Aufträgen oder dem Sammeln von Zutaten zu einem höheren Erfahrungslevel trainiert. Leistung bestimmt die Problemlösungskompetenz des Avatars und den Status, der durch das Bezwingen von Spieler- sowie Nichtspieler-Charakteren erhalten wird.
- Der Faktor Soziales beinhaltet den Umgang mit den Mitspielern der virtuellen Gesellschaft. Manche Spieler können durch ihr Handeln von diversen Spielmechanismen als Unruhestifter gebrandmarkt werden, während andere z.B. durch Hilfsbereitschaft einen guten Ruf genießen. In weiterer Folge ist es dienlich, sich größeren Gruppen/Clans/Gilden anzuschließen, um im weiteren Spielverlauf einen höheren Erfolg zu haben. Dies führt erst recht zu einer sozialen Verflechtung des Charakters, der durch das ihm geschenkte Vertrauen und seinen Ruf auch Verantwortungen übertragen bekommt. Durch das Aktivwerden in einer Gilde ist es möglich, dass der Spieler hinter dem Avatar wichtige soziale Fähigkeiten erlangt.
- Der Faktor des Eintauchens in die Spielwelt äußerst sich dadurch, dass der Spielercharakter mit fortlaufender Zeit eine eigene Persönlichkeit und Geschichte erhält. Durch das Rollenspiel und die Aneignung einiger für das Individuum zustimmungswürdigen Attribute beginnt der Mensch vor dem Computer, sich mit dem Avatar zu identifizieren.
Durch die Interaktion zwischen Individuum und Charakter entsteht eine Rolle, die zu einer virtuellen Identität führt. Dieser sentimentale Wert kann soweit führen, dass der Mensch bereit ist, virtuelle Prestigegegenstände für den Avatar mit echtem Geld zu bezahlen. Gleichzeitig würden mehr als 50% der Frauen und 30% der Männer ihren Account um kein Geld verkaufen. (2)
Zum Abschluss
Das Thema der virtuellen Identitäten in Onlinespielen ist mittlerweile zum Teil erforscht, birgt allerdings noch viele Überraschungen und Diskussionsthemen.
Der Kollege Sunitsch etwa beschäftigt sich in seinem Blog mit dem Begriff des Gender Swappings: Spieler wählen für den Avatar das andere Geschlecht.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Wahl des Namens eines Charakters. Thurau und Drachen fanden, dass der Charaktertyp (z.B. Rasse) sowie der Servertyp (Player-versus-Player oder Player-versus-Environment) einen Einfluss auf die Namenswahl haben. (3)
Bereits im Zuge der Lehrveranstaltung "Webkommunikation" ging ich auf das Beispiel des Indiegames Journey ein. Hier hat jeder einen einheitlichen Avatar, keinen Namen und keine verbale Kommunikationsmöglichkeit. Es ist lediglich möglich, anhand eines musikalischen Tons und Bewegungen zu kommunizieren.
Quellen
Artikelquelle
Manninen, T., & Kujanpää, T. (2007). The value of virtual assets–the role of game characters in MMOGs. International Journal of Business Science and Applied Management, 2(1), 21-33. URL: http://business-and-management.org/library/2007/2_1--21-33,Manninen,Kujanpaa.pdf (abgerufen am 22.10.2013)
Weitere Quellen
Quelle 1: Yee, N. (2006). Motivations for play in online games. CyberPsychology & Behavior, 9(6), 772-775. URL: http://online.liebertpub.com/doi/abs/10.1089/cpb.2006.9.772 (abgerufen am 22.10.2013)
Quelle 2: Yee, N. (2003c). "How Much Would You Sell Your Account For?" from "The Daedalus Project" by Nick Yee. URL: http://www.nickyee.com/daedalus/archives/000196.php (abgerufen am 22.10.2013)
Quelle 3: Thurau, C., & Drachen, A. (2011). Naming virtual identities: Patterns and inspirations for character names in world of warcraft. In Entertainment Computing–ICEC 2011 (pp. 270-281). Springer Berlin Heidelberg.
Wie wertvoll ist das "virtuelle Ich"? Finde es sehr spannend, dass die Autoren versucht haben die Wertigkeit dieser Avatare für ihre Besitzer zu bestimmen. Ich in meinem Artikel wird indirekt auch auf den sentimenalten Wert solcher Avatare eingegangen. Hier gaben interviewte Personen an im Rahmen von Second Life Dinge erreichen zu können, die sie im realen Leben nicht erreicht hätten. In dieser virtuellen Welt bietet die erzeugte Identität eine Art Schutz, um sich mehr zu trauen als im realen Leben. Auch spannend ist der Aspekt, dass Personen bereit sind reales Geld für ihre Avatare auszugeben und das auch Unternehmen versuchen diesen Markt zu nutzen.