Sonntag, 9. November 2003
Virtuelle Gemeinschaften
rene.milich.salzburg, 11:56h
1. Einleitende Worte 2. Virtuelle Gemeinschaften 2.1. Vorteile und Möglichkeiten von virtuellen Gemeinschaften 2.1.1. Städte im Netz am Beispiel von Santa Monica 2.1.2. CMC-Systeme als wichtige Unterstützung für Hilfsorganisationen 2.2. Nachteile und Gefahren von virtuellen Gemeinschaften 3. Das Online-Konferenzsystem WELL 3.1. Unvergessliche WELL-Erlebnisse 3.1.1. Ein Treffen „unbekannter“ WELL-Mitglieder 3.1.2. Der Kampf um Lillie 3.1.3. Leukämie als Aufklärungschance 3.1.4. Der Tod eines Mitglieds 4. Internationale Online-Kulturen im Vergleich 4.1. Besonderheiten der japanischen Netzkultur 4.2. Frankreich und seine Bedenken 5. Möglichkeiten und Gefahren der Neuen Medien Literaturverzeichnis 1. Einleitende Worte Dieser Weblog soll vor allem dazu dienen, euch Studenten zu einer Diskussion hinsichtlich der Möglichkeiten, aber auch der Gefahren von computervermittelter Kommunikation einzuladen. Als Anstoß soll die 1994 erschienene Publikation des amerikanischen Medientheoretikers und Online-Pioniers Howard Rheingold „Virtuelle Gemeinschaft: Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers“ dienen. Der 55-jährige Rheingold, der als einer der ersten das Potential der Vernetzung für die menschliche Kommunikation erkannt hat, weißt in diesem Buch u.a. auf die Möglichkeit hin, seine Freunde in Zukunft nicht mehr auf „realen“ Partys zu treffen, sondern an seinen Lieblingsplätzen im Internet. Ich werde mich vereinzelt auch allgemeinen Thematiken rund um das Internet zuwenden – der Schwerpunkt soll aber wie gesagt auf den von Rheingold vorgestellten Kommunikationssystemen liegen. Allen voran ist hier bereits das Konferenzsystem WELL (Whole Earth ´Lectronic Link) zu nennen, welches Rheingold in seinem Werk genauer vorstellt – wohl auch aus dem Grund, da er nach eigenen Angaben sieben Tage in der Woche zwei Stunden täglich bei WELL anzutreffen ist. Im Allgemeinen möchte ich auch Rheingold’s Sichtweise in diese Arbeit übernehmen, wonach wissenschaftliche Untersuchungen nicht unbedingt im Vordergrund stehen werden, sondern die von Rheingold geschilderten persönlichen Erfahrungen. (Vgl. OQ 8) Sie waren es auch, die den gewissen Reiz des Buches für mich ausmachten. Ich möchte jetzt meine Einleitung schließen, nochmals mit der Bitte, eure Meinungen zu diesem Thema und dieser Arbeit (auch inhaltliche Verbesserungsvorschläge) kundzutun. 2. Virtuelle Gemeinschaften Der Duden definiert den Begriff der Gemeinschaft wie folgt: „Eine Gruppe von Menschen, die durch gemeinsames Denken, Fühlen, Wollen (Arbeitsgemeinschaft, Religionsgemeinschaft) oder durch Schicksal (Not, Gefahr) verbunden sind.“ Charakteristisch für Gemeinschaften ist weiters, dass ihre Umgebung sich ständig verändert und ihre Mitglieder meistens dieselben Interessen besitzen und die gleichen Ziele verfolgen. (Vgl. OQ 6) Der Begriff der „virtuellen Gemeinschaften“ geht auf Rheingold zurück, der diese definiert als „soziale Zusammenschlüsse, die dann im Netz entstehen, wenn genug Leute diese öffentlichen Diskussionen lange genug führen und dabei ihre Gefühle einbringen, so dass im Cyberspace ein Geflecht persönlicher Beziehungen entsteht.“ (Rheingold 1994, 16) Die Mitglieder einer derartigen virtuellen community sind daher auf der Suche nach Gemeinschaft im Netz, wohl auch deshalb, weil in der wirklichen Welt die Räume für zwangslose soziale Kontakte mehr und mehr verschwinden. (Vgl. Rheingold 1994, 17) Dieses Phänomen ist in den Großstädten aus meiner Sicht stärker anzutreffen, wenn sich zum Beispiel Nachbarn nicht einmal mehr persönlich kennen oder aber auch die kleinen Geschäfte im Ort, wo man sich früher noch persönlich gegrüßt hat, durch riesige Einkaufszentren verdrängt werden. Damit im Netz eine derartige Gemeinschaft überhaupt entstehen kann, wird ein gemeinsamer virtueller Treffpunkt benötigt, also eine technische Plattform, auf die alle Beteiligten zugreifen können. Allein mit der Bereitstellung der Software besteht aber noch keine soziale Community – Voraussetzung hierfür ist ein fester Mitgliederkreis, der regelmäßig in den Foren kommuniziert. Erfahrungsgemäß werden aber lediglich 10% der Besucher eines Online-Forums aktiv, der Rest liest ohne Rückmeldung mit. (Vgl. OQ 3) Neben der Mitglieder-Anwerbung spielt die Organisation einer virtuellen Gemeinschaft eine zentrale Rolle: Verhaltensregeln müssen definiert (auch wenn dies zu Lasten der freien Meinungsäußerung ist), Vertrauen und Zusammenhalt durch Online- und Offline-Aktivitäten gestärkt werden. (Vgl. OQ 3) Kommunikationssysteme, die ein bestimmtes Ziel verfolgen, müssen weiters durch Planung und Arbeitsteilung koordiniert werden. Unbestritten ist wohl, dass sich virtuelle Gemeinschaften zu einem großen Teil aufgrund gleicher Interessen bilden. Es gibt aber auch Zusammenschlüsse mit dem Ziel, sich gegenseitig zu helfen. So sind vereinzelt Selbsthilfegruppen zur Bekämpfung der eigenen Sucht im Internet eingerichtet worden. Als Beispiel sind hier die "anonymen Alkoholiker“ zu nennen. (Vgl. OQ 9) Allerdings nicht jede Gruppe, die sich gemeinschaftlich organisiert, hat zwangsläufig Ziele im Sinn, die gut für eine Gesellschaft sind. Organisierte Kriminalität, Terrorismus oder Unruhen sind ebenfalls Formen virtueller Zusammenschlüsse. (Vgl. OQ 1) CMC (computer-mediated communications, computervermittelte Kommunikation) bietet nun neue Möglichkeiten der Kommunikation „vieler mit vielen“, da sowohl die geographische als auch die zeitliche Komponente wegfällt. Dies führt automatisch zu einem drastisch erhöhten Mitgliederpotential - der Kontakt zu Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen kann ohne größere Probleme aufgenommen werden. Menschen, deren Behinderungen es ihnen erschweren, neue Freundschaften zu schließen, werden von der virtuellen Gemeinschaft so behandelt, wie sie sich das schon immer gewünscht haben. Howard Rheingold beschreibt diese Situation folgendermaßen: „Nun besitze ich überall auf der Welt gute Freunde, die ich ohne Vermittlung des Netzes nie getroffen hätte. […] War ich in den vergangenen Jahren auf Reisen, so traf ich immer auf reale Gemeinschaften, die ich schon online Monate vor Antritt meiner Reise besucht hatte. Die gemeinsame Begeisterung für virtuelle Gemeinschaften diente uns als Brücke zu Menschen, deren Bräuche und deren Sprache unübersehbar verschieden war.“ (Rheingold 1994, 22) Ritter, seines Zeichens Professor an der Universität Frankfurt, spricht in diesem Zusammenhang auch von zweigleisig arbeitenden Netzwerken, die Kontakte und Kommunikation sowohl im Netz wie auch im unmittelbaren Kontakt zwischen Personen ermöglichen und pflegen. (Vgl. OQ 10) Durch mobile Kommunikationsgeräte wie dem Handy ist es schon länger möglich, diese Gemeinschaften auch im alltäglichen Leben, also nicht zwangsläufig vor einem Computer sitzend, überall hin mitzunehmen. (Vgl. OQ 1) Dazu aber mehr in meiner zweiten Arbeit, die sich der neuesten Publikation Rheingolds („Smart Mobs“) annimmt, in welchem derartige Phänomene genauer unter die Lupe genommen werden. Internet als Wiedergeburt einer verloren gegangenen Gemeinschaft – oder doch nicht? Ist ein derartiges virtuelles Zusammenkommen vielleicht doch nur eine „[…] lebensverachtende Simulierung wirklicher Leidenschaft […]“ (Rheingold 1994, 41) ? 2.1. Vorteile und Möglichkeiten von virtuellen Gemeinschaften Gleich vorweg einer der wahrscheinlich bedeutendsten Vorteile einer virtuellen Gesellschaft bzw. des Internets generell: die Redefreiheit. Jeder Einzelne kann entscheiden, welche Informationen er theoretisch Millionen anderen Usern zugänglich machen möchte, d.h. jeder ist sein eigener Autor. Nicht wie beim Fernsehen, beim Radio oder bei der Presse, wo einige wenige entscheiden, welche Themen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und welche nicht. Vor allem Kriegsberichterstattungen werden oftmals durch Rundfunk und Presse verzehrt wiedergegeben, d.h. Personen vor Ort empfinden die schwierige Situation ganz anders als sie in den Medien dargestellt wird. Es ist schwer, als Außenstehender Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen – Fakt ist jedoch, dass sie von einem Großteil der Bevölkerung als wahr erachtet wird. (Vgl. Rheingold 1994, 324) Howard Rheingold erlebte den Golfkrieg großteils über WELL mit, indem er Mitteilungen von Personen las, die sich inmitten des Kriegsgebietes befanden: „Während des Golfkrieges versammelten wir uns in WELL und lasen wie gebannt, was ein israelischer Wissenschaftler […] berichtete. Er saß mit seiner Familie in einem abgedichteten Raum in einem Haus, das unter Raketenbeschuß stand. Wir stellten ihm Fragen, und er konnte uns über das Email-System von Internet antworten.“ (Rheingold 1994, 324) Virtuelle Gemeinschaften können weiters als praktisches Hilfsmittel herangezogen werden, wenn es um das berufliche Fortkommen eines jeden Einzelnen geht. Ob nun eine spezielle Information, eine Expertenmeinung oder ein Hinweis auf eine Quelle benötigt wird, die virtuelle Gemeinschaft erweist sich oftmals als lebendiges Lexikon. Besonders in der heutigen Flut an Informationen ist es wichtiger denn je, jene Daten für den Betroffenen auszusieben, die für ihn nützlich und interessant sind. (Vgl. Rheingold 1994, 76) Denn “die fortschreitende Technik und die damit verbundene Vereinfachung des Zugangs zum Internet hat nicht nur zu einer stetig wachsenden Zahl von Internetnutzern geführt, sondern gleichzeitig auch zu einem explosionsartigen Anstieg der Menge an Informationen, die in diesem Medium zur Verfügung stehen.” (OQ 7) Diese Entwicklung ist natürlich einerseits positiv, da es im Internet fast zu jedem gewünschten Thema etwas zu finden gibt, andererseits fehlt aber die zentrale Koordination, wer an welchem Ort wann welche Art von Information in welcher Weise publiziert hat. (Vgl. OQ 7) Gerade hier können einem verlässliche Freunde im Internet möglicherweise viel Zeit und vor allem Ärger ersparen. Howard Rheingold erwähnt in diesem Zusammenhang den Begriff des „kollektiven Nutzens“, d.h. eine Gruppe von Menschen kooperiert nur deswegen miteinander, weil jeder innerhalb der Gruppe erkannt hat, dass er seine Ziele nur im Zusammenwirken aller Beteiligten erreichen kann. (Vgl. Rheingold 1994, 25) Hierfür bringt Rheingold auch ein persönliches Beispiel, als er gebeten wurde, sich einer Kommission von Experten anzuschließen, die das „Office of Technology Assessment“ des US-Kongresses in den Fragen von Kommunikationssystemen berät. Da Rheingold kein Experte auf dem Gebiet war, eröffnete er in WELL eine eigene Konferenz und bat die Mitglieder, ihm Informationen zukommen zu lassen. Eine verblüffend große Zahl an Geistern, so Rheingold, strömten in die Konferenz, und als schließlich der große Tag gekommen war, verfügte er über mehr als zweihundert Seiten an Expertenwissen. (Vgl. Rheingold 1994, 78) „Während einer ganzen akademischen oder industriellen Laufbahn wäre ich nicht in der Lage gewesen, so viel Wissen über mein Thema zusammenzustellen. Dabei kostete es mich (und meiner virtuellen Gemeinschaft) sechs Wochen lang nur wenige Minuten am Tag.“ (Rheingold 1994, 78) Die Verdichtung von intellektueller Vielfalt ist ein wesentlicher Grund, der für virtuelle Gemeinschaften spricht. Eine unterschiedlich zusammengesetzte Gruppe liefert verschiedenartige, einander nicht überschneidende Netze von Expertenwissen. Auch in diesem Zusammenhang berichtet Rheingold von einem, wie ich finde, sehr emotionalem Beispiel, der „Elly-Saga“. Elly war eine äußerst beliebte WELL-Anwenderin, die die virtuelle Gemeinschaft verließ, um eine Reise zum Himalaya anzutreten. In ihren vereinzelten Zwischenberichten teilte sie eines Tages den anderen Usern mit, dass sie sich entschlossen hatte, in Asien eine buddhistische Nonne zu werden – ihr Ordensname war Jigme Palmo: die glorreiche unerschrockene Frau. Das Thema ruhte sechs Wochen lang, als eine frühere Nachbarin von Elly meldete, dass Ellys Leber von einer Amöbe befallen worden sei und sie sich in einem Krankenhaus in Neu Delhi befand. Im Koma. Sie hatte eine schwere Hepatitis und ihre Leber versagte zusehends. Die Online-Ärzte waren sich einig, dass es nicht gut um Elly stand. (Vgl. Rheingold 1994, 47) „Innerhalb von Stunden fingen die Leute an, in die verschiedensten Richtungen etwas in eigener Initiative zu unternehmen. Die Reichweite und Vielfalt der Quellen, die uns zur Verfügung standen, als wir unsere individuellen Netze zusammenschlossen, war erstaunlich. Leute, die medizinische Kontakte nach Neu Delhi hatten, wurden eingeschaltet; Flugpläne und –preise für einen Krankentransport wurden in Erfahrung gebracht; es wurde ein Fonds gegründet […] Nach einigen Tagen kam die Nachricht über das Netz, dass die Leber wenigstens zum Teil noch funktionierte und dass möglicherweise spezielle Blutwäsche-Geräte gebraucht würden, um Elly transportfähig zu machen. Innerhalb von Stunden wussten wir, wo solch ein Gerät in Neu Delhi zu bekommen war […] und wie Geld überwiesen werden musste, um Elly in ein Krankenhaus in der Region um San Francisco zu transportieren. […] Elly erholte sich soweit, dass sie keinen speziellen Krankentransport brauchte, um nach Kalifornien zu kommen. Die nächste Nachricht kam direkt von ihr, über WELL: Danke an jeden von Euch für Eure zahlreichen WELLbeams, Grüße, Gebete, Ratschläge und die finanzielle Unterstützung. Der Arzt denkt, dass ich mich wegen der Medikamente so schnell erholt habe, aber der wirkliche Grund waren Eure Beams und Gebete.“ (Rheingold 1994, 47) Kommunikation über das Internet bietet auch den großen Vorteil, lange über jene Worte nachdenken zu können, die man zu einer Unterhaltung beitragen möchte. Viele Menschen haben ein Problem, wenn sie eine spontane gesprochene Kommunikation führen sollen. Und weshalb soll ein geschriebenes Gespräch weniger „menschlich“ sein als ein verbales? Aber es stimmt schon, dass die Beschränkungen und Gefahren der computervermittelten Kommunikation nicht übersehen werden dürfen! Zusammenfassend kann man also festhalten, dass für Leute, die Krankheiten leiden und mehr Informationen darüber benötigen (oder andere Betroffene suchen), für Menschen, die aus verschiedenen Gründen an ihr Zuhause gebunden sind, für Leute, die in abgelegenen Gegenden leben, die communities ein Lebensinhalt sein können. Auch für Menschen, die den ständigen Kontakt zu anderen Menschen aufgrund ihres Berufes benötigen, für die der Wissensaustausch mit anderen Wissenschaftlern für ihre Arbeit unerlässlich ist, haben sich Kommunikationssysteme als nützliche Einrichtung erwiesen. 2.1.1. Städte im Netz am Beispiel von Santa Monica Die Stadt Santa Monica in Kalifornien gilt als Vorreiter, wenn es darum geht, CMC-Systeme effektiv zur Problembehebung einzusetzen. Im konkreten Fall ging es um die Thematik der Obdachlosigkeit: Obdachlose können nicht erfolgreich bei ihrer Jobsuche sein, wenn sie morgens nicht unter die Dusche gehen und wenn sie nirgendwo kostenlos ihr Wäsche waschen können, so die Meinung der Hilfsgruppe, deren Anliegen auch an die Stadt Santa Monica weitergeleitet wurde. Die Betroffenen selbst beteiligten sich über öffentliche Terminals an der Diskussion. Schlussendlich genehmigte der Stadtrat für 150.000 Dollar die Anschaffung von Schränken und Duschen. Weiters wurde von obdachlosen Mitgliedern der Wunsch geäußert, eine Datenbank mit Jobangeboten einzurichten, welchem ebenfalls stattgegeben wurde. Die Vernetzung der Stadt sollte es jedem, also nicht nur den Obdachlosen, erlauben, Themen vorzuschlagen, Probleme zu nennen und gemeinsam über Lösungen nachzudenken. Diese Offenheit hatte aber im Endeffekt auch einen negativen Beigeschmack, denn einige Leute nutzten diese Möglichkeit, um ihren Unmut über die Politik der Stadt mit persönlichen Angriffen freizusetzen, was sich insgesamt negativ auf den Diskussionsprozess zwischen den Bürgern und Politikern der Stadt auswirkte. (Vgl. Rheingold 1994, 329) Dieses Problem hätte man zwar durch den Einsatz von Konferenzleitern in den Griff bekommen können, dadurch wäre aber auch die goldene Regel der Meinungsfreiheit im Internet verletzt worden. Ein weiteres Phänomen, das generell bei Konferenzsystemen aller Art anzutreffen ist, hängt mit der spärlichen Teilnahme der Mitglieder zusammen. Die Diskussionen in Santa Monica wurden von einer kleinen Zahl von Personen dominiert – ein großer Teil hatte zwar Zugang zum System, nutzte ihn aber nur sehr begrenzt. Man muss in diesem Fall zwangsläufig von einer vergebenen Chance der Stadtbevölkerung sprechen, sich aktiv an der Gestaltung ihrer Stadt zu beteiligen. 2.1.2. CMC-Systeme als wichtige Unterstützung für Hilfsorganisationen Gemeinnützige Organisationen oder international operierende Nongovernmental Organizations (NGOs) profitieren sehr stark von den Möglichkeiten der weltweiten Vernetzung. Sie kämpfen gegen Hunger, beschäftigen sich mit Umweltfragen, befreien politische Gefangene, organisieren Katastrophenhilfe und dies meist ehrenamtlich ohne große finanzielle Unterstützung von Seiten des Staates. Gerade in diesen Fällen ist es wichtig, auf Technologien zurückgreifen zu können, die grundsätzlich jedermann zu Verfügung stehen und wo auch Experten zu den jeweiligen Themen anzutreffen sind. Rheingold stellt in seiner Publikation die internationale Organisation EarthTrust vor, die sich auf Tierschutz und Umweltfragen konzentriert und mit extrem wenig Verwaltungsaufwand auskommt. Dies ist deshalb der Fall, da die Mitarbeiter von EarthTrust, die rund um den Globus verteilt sind, online miteinander verbunden sind und dadurch zu jeder Zeit über aktuelle Entwicklungen und Fälle berichten, aber auch weitere Vorgehensweisen koordinieren können, und das mit einem minimalen Kostenaufwand. Inbegriffen sind hier jene Personen, die in den Städten versuchen, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen, als auch jene Mitarbeiter, die sich vor Ort ein Bild von der zu kritisierenden Situation machen. Da auch die wissenschaftliche Komponente bei derartigen Aktivitäten nicht fehlen darf, beteiligen sich zahlreiche Experten an diesen Diskussionen. (Vgl. Rheingold 1994, 318f) Eine derartige Hilfsorganisation wäre ohne die Möglichkeiten, die eine virtuelle Gesellschaft bietet, nicht überlebensfähig oder könnte zumindest nicht in dieser Effizienz agieren. 2.2. Nachteile und Gefahren von virtuellen Gemeinschaften Jede Technologie besitzt neben seiner Schokoladenseite auch negative Gesichtspunkte, die auf keinen Fall übersehen werden dürfen. So beklagen bereits viele Kritiker jene Umstände, die dazu geführt haben, dass einige Leute derart mitleiderregende beziehungslose Leben führen, dass sie ihre Freunde auf der anderen Seite des Bildschirms suchen. Ihrer Meinung nach flüchte jedes Mitglied einer virtuellen Gemeinschaft aus der realen Welt und entziehe sich sozialer und politischer Verantwortung, was in weiterer Folge einer menschlichen Verarmung gleichkommt (Vgl. OQ 3) Auch wenn das Internet die Kommunikation mit Menschen aus aller Welt ermöglicht, besteht die Chance, Mitteilungen anonym oder unter falscher Identität abzugeben. Niemand kann nachweisen, inwieweit ein Beitrag mit der Meinung des Schreibenden übereinstimmt – Täuschungen sind daher jederzeit möglich. Eine französische Studie unterstrich diese Gefahr, da durch ein Experiment festgehalten werden konnte, dass sich eine Falschinformation innerhalb von nur wenigen Tagen in einer virtuellen community verbreiten konnte. (Vgl. Rheingold 1994, 280) Obwohl in diesem Zusammenhang auch berücksichtigt werden muss, dass einige Menschen genau deshalb erheblich mehr von sich preisgeben, da sie sich unter einem Pseudonym im Netz bewegen können. Kommunikationsforen sind ebenfalls eine gewisse Anziehungskraft nicht abzusprechen, wenn es darum geht, obszöne und beleidigende Mitteilungen von Anwendern entgegenzunehmen. Rassistische und homosexuellenfeindliche Meldungen sind nur zwei von vielen Beispielen, wie User ihre Unzufriedenheit ausdrücken. Ein Überleben derartiger Konferenzen kann daher nur dann garantiert werden, wenn eine Überwachung und Steuerung wesentlicher Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung gegeben ist, d.h. derartige Beiträge aus dem System gelöscht werden. Ein zentrales Element von CMC, nämliches jenes der Meinungsfreiheit, wäre dann jedoch nur mehr beschränkt gegeben. Ein Auge sollte neben derartigen asozialen Kommentaren auch auf böswillige Hacker-Angriffe gerichtet sein. Diese Gefahr lässt vor allem größere virtuelle Gemeinschaften aufschrecken, denn Hacker könnten bei einem Vordringen in die „Kommandozentrale“ eines Systems theoretisch alle bisherigen Konversationen und Informationen der Mitglieder löschen. Deshalb wird offen darüber diskutiert – oft auch bei größeren Unternehmen – Hacker in die Gemeinschaft aufzunehmen, die etwaige Sicherheitslücken des Programms aufdecken. 3. Das Online-Konferenzsystem WELL Experten stellten bereits sehr früh fest, dass gewisse Möglichkeiten des Internets sich schnell äußerster Beliebtheit erfreuten. Dazu gehörte auch das Hinterlassen von Nachrichten für andere Teilnehmer, ähnlich einem schwarzen Brett. Anfänglich war dies vor allem ein Gedankenaustausch über gemeinsame Interessen. Interessant ist diese Funktion deshalb, da man jederzeit nachsehen konnte, ob jemand auf die eigene Meldung geantwortet hatte. Einige Teilnehmer entwickelten in weiterer Folge Programme, die das Publizieren und Absenden von Texten für jedermann ermöglichten. 1976 kam es zur Gründung der wahrscheinlich ersten virtuellen Gemeinschaft im Internet – dem EIES (Electronic Information Exchange System). EIES wurde sehr schnell, nicht nur in naturwissenschaftlichen Forschungsgemeinschaften, sondern auch in legislativen Bereichen und bei der medizinischen Forschung genutzt. Murray Turoff, der Entwickler von EIES meinte 1976: “Ich denke, die größte Möglichkeit der computergestützten Konferenzsysteme liegt darin, Gruppen von Menschen die Fähigkeit einer „kollektiven Intelligenz“ zu verleihen. [...] Im Prinzip zeigt sich in der erfolgreichen Zusammenarbeit einer Gruppe eine größere Intelligenz, als sie jedes einzelne ihrer Mitglieder besitzt. Für die nächsten Jahrzehnte versprechen die Versuche, computergestützte Konferenzsysteme zu entwickeln, die einer Gruppe erlauben, ein spezielles, komplexes Problem mittels eines einzigen, kollektiven Gehirns zu lösen, mehr Nutzen für die Menschheit, als alles, was bis jetzt im Bereich der Künstlichen Intelligenz erreicht worden ist.“ (Rheingold 1994, 144) Rheingold bringt in diesem Werk zahlreiche persönliche Beispiele, die er als Mitglied von WELL (Whole Earth ´Lectronic Link, weltweiter elektronischer Zusammenschluss) – einem System für Computerkonferenzen – miterleben durfte und musste. Ich möchte in diesem Kapitel die wichtigsten Charakteristiken des Systems vorstellen, da meiner Meinung nach sehr viele auch auf Weblogs übertragbar sind. Die Gründer von WELL hatten beim Start des Unternehmens im Jahr 1985 folgende Ziele vor Augen: 1. Es sollte kostenlos bzw. so billig wie möglich sein. 2. Es sollte Gewinn abwerfen, was nach Jahren harter Arbeit auch gelang. 3. Es sollte ein Universum ohne Grenzen werden 4. Es sollte sich die Regeln selbst geben. 5. Es sollte ein sich selbst entwickelndes Experiment sein, d.h. die ersten Benutzer sollten das System für die später hinzukommenden Benutzer aufbauen. Nutzung des Systems und das System selbst sollten sich wechselseitig beeinflussen und sich weiterentwickeln. 6. Es sollte eine Gemeinschaft bilden. (Vgl. 1994, 61) Weiters versuchte man interessante Leute für eine „Konversation auf einem etwas höheren Niveau“ (Rheingold 1994, 60) zu gewinnen, um dadurch die notwendige Zahl an Teilnehmern erreichen zu können. Autoren und Redakteure der „New York Times“, der „Business Week“, „Rolling Stone“ und dem „Wall Street Journal“ erkannten schon bald die Möglichkeiten von WELL und wurden Teil der Gemeinschaft. Journalisten ziehen wiederum andere Journalisten an, und Ziel des Journalismus ist es ja, andere Leute neugierig zu machen. Dadurch wurde wiederum die These bestätigt, wonach Menschen oft die alten Medien benötigen, um über Neuigkeiten eines neuen Mediums zu erfahren. Personen, die nach einem großen kollektiven Projekt im Internet suchten, strömten in Scharen zu WELL und das System profitierte davon. „Was es ist, bestimmen wir“ wurde zum Motto der WELL-Gemeinschaft. (Vgl. Rheingold 1994, 62) Anonymität in WELL existiert nicht – jedes Mitglied der virtuellen Gemeinschaft muss seine Beiträge mit seiner Benutzerkennung versehen. Es besteht zwar die Möglichkeit Pseudonyme zu verwenden, diese sind jedoch bei jeder Nachricht mit der wirklichen Benutzerkennung verbunden. (Vgl. Rheingold 1994, 67) Die Struktur von WELL ist in eine Vielzahl von Themen (z.B. Freizeit, Unterhaltung, Computer, usw.) und Unterthemen (z.B. gliedert sich der Bereich Computer u.a. in Internet, Drucker, Windows, Computerbücher, usw.) unterteilt, die ihrerseits wieder Hunderte von Beiträgen enthalten. Dadurch wird die Suche nach Informationen zu einem Thema um ein erhebliches vereinfacht. (Vgl. Rheingold 1994, 62f) Ein großer Vorteil eines Computerkonferenzsystems ist die Speicherung aller Einträge, wodurch Schlüsselmomente in der Geschichte der Gemeinschaft aufbewahrt werden können. Grundsätzlich ist zwar auch eine nachträgliche Löschung eigener Beiträge möglich, dies wird aber von den WELL-Usern nicht gerne gesehen. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass jeder lieber zweimal nachdenkt, bevor er seine Meinung äußert, nicht dass er diese später wieder bedauert. (Vgl. Rheingold 1994, 51) 3.1. Unvergessliche WELL-Erlebnisse Wie ich bereits in meiner Einleitung erwähnt habe, sind es gerade die persönlichen Erfahrungen Rheingolds mit WELL, die das Buch so interessant machen. Der Amerikaner hebt immer wieder hervor, dass WELL ihm gerade deswegen als eine authentische Gemeinschaft erscheint, weil die dortige virtuelle Diskussion vielfach mit seinem Alltagsleben verknüpft ist. (Vgl. OQ 5) Rheingold versteht es wunderbar zu vermitteln, dass auch übers Netz Freundschaften und vor allem Gefühle entwickelt werden können. Die folgenden Auszüge aus seinem Buch sollen dies näher bringen. 3.1.1. Ein Treffen „unbekannter“ WELL-Mitglieder „Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich IRL (in real life) einen Raum voller Leute betrat, die viele Details aus meinem Privatleben kannten und über deren eigene Lebensumstände ich gut Bescheid wusste. [...] ging ich zu meiner ersten WELL-Party [...] Als ich hinkam, befand ich mich plötzlich in einem Raum voller Fremder. Ich hatte mit diesen Leuten gekämpft, hatte die technische Kälte des uns verbindenden Mediums überwunden, hatte bei Bündnissen mitgemacht und Übereinkünfte getroffen, war vor Lachen gemeinsam mit ihnen vom Stuhl gefallen und hatte mich über einige von ihnen schwarz-geärgert. Aber in diesem Haus gab es kein einziges bekanntes Gesicht. Ich hatte sie nie zuvor gesehen.“ (Rheingold 1994, 12) 3.1.2. Der Kampf um Lillie „Jay Allison und seine Familie leben in Massachusetts. [...] Ich habe sie nie persönlich getroffen; dennoch weiß ich, dass ich sie sehr gut kenne und mich eine starke emotionelle Bande mit ihnen verbindet. Hier einige von Jays Mitteilungen über WELL: [...] Mitternacht. Ich sitze im Dunklen im Zimmer meiner Tochter. Die Lampen ihres Monitors werfen ihr Blinklicht auf mich. [...] ein ständiges Rot und Grün, Lillies Herz und Lunge. Oberhalb des Monitors befindet sich eine Saugeinheit. Im Schein der Taschenlampe, in dem ich schreibe, sieht es aus wie die Eingeweide eines der Modellmenschen für Medizinstudenten, die Schläuche um den Motor gewickelt, den Flüssigkeitsbehälter, die Pumpe. Tina ist nach oben gegangen und versucht, ein wenig zu schlafen. Ein Monitor verbindet unser Schlafzimmer mit dem Lillies. Es verbindet auch Lillies Schlaf mit unserem, und weil auch unsere Seelen miteinander verbunden sind, schlafen wir nicht sehr gut. [...] Meine Tochter atmet durch einen Plastikschlauch, der in einem Loch in ihrer Kehle steckt. Sie ist vierzehn Monate alt. In Tokio, Sacramento und Austin saßen wir vor unseren Computern, mit klopfenden Herzen und Tränen in den Augen uns lasen von Lillies Krankheit. [...] Lillie wurde wieder gesund und beendete unsere Sorgen, ob sie nach all dieser Zeit mit einem Loch in der Kehle noch normal würde sprechen können damit, dass sie die unglaublichsten Dinge sagte. [...] Später beschrieb Jay in einem Artikel für die „Whole Earth Review“ seine Erfahrungen: Vor dieser Zeit hatte ich den Computer niemals benutzt, um Trost zu finden. [...] Ich schrieb über das, was in jener Nacht oder auch in jenem Jahr passiert war. Niemanden von denen, mit denen ich „sprach“, kannte ich. Nie hatte ich sie gesehen. Um drei Uhr morgens schliefen meine „richtigen“ Freunde, deswegen wandte ich mich an diese fremde unsichtbare Gemeinschaft, um Unterstützung zu erhalten. WELL war immer wach. [...] Als ich meine Tagebuchaufzeichnungen in einen Computer eintippte und über Telefonleitungen verschickte, fand ich Mitgefühl und Beistand in diesem Medium, das dafür gar nicht geeignet zu sein scheint.“ (Rheingold 1994, 33f) 3.1.3. Leukämie als Aufklärungschance „[...] als plötzlich die Nachricht eines unserer treuesten, liebsten und redseligsten Teilnehmers, Phil Catalfo, wie eine Bombe einschlug. Ich würde diesen Themenkreis gern dazu benutzen, um die Krankheit Leukämie zu diskutieren, wie meine Familie von ihr betroffen ist, und das, was man allgemein weiß. Anfang letzter Woche haben wir erfahren, dass unser Sohn Gabriel, 7, (unser mittleres Kind) akute Lymphozyten-Leukämie hat. [...] Als erstes möchte ich, gleichgültig, wie dies zu diesem speziellen Thema passt, sagen, dass die Unterstützung und Zuwendung, die meine Familie und ich, und insbesondere Gabe von WELL erfahren haben, für uns von unschätzbarem Wert waren. [...] Die regelmäßigen Teilnehmer der Elternkonferenz, die Stunden damit verbrachten, mitfühlende oder witzige und geistreiche Bemerkungen zu den kleinen Auf und Abs über das Leben mit Kindern auszutauschen, schalteten sich mit Unterstützungsbekundungen ein. Eine von ihnen war Krankenschwester. Menschen, die nie zuvor etwas zur Elternkonferenz beigetragen hatten, schalteten sich in die Unterhaltung ein, darunter auch einige Ärzte, die Phil und dem Rest von uns halfen, die täglichen Berichte über die Anzahl der Blutkörperchen und andere Diagnosen zu verstehen und zwei andere Leute, die selbst an Unregelmäßigkeiten ihrer Blutzusammensetzung litten und daher über Wissen aus erster Hand verfügten. [...] Im Laufe der Woche wurden wir alle Experten in dieser Angelegenheit. [...] Das Beste von all dem war jedoch, dass wir erfuhren, dass sich Gabes Zustand nach ungefähr einer Woche Chemotherapie besserte.“ (Rheingold 1994, 36f) 3.1.4. Der Tod eines Mitglieds „Ein Teil der Geschichte von Blair war immer, dass er die Beachtung der Leute suchte, insbesondere großer Gruppen intelligenter Leute. Er wollte helfen. Und er wollte beeindrucken. Blair fiel den Leuten aber auch auf die Nerven. Seine gutgelaunte, unglaublich offenherzige Selbstdarstellung war Teil davon. Er verbreitete etwas Mythisches um sich. Einer seiner Zimmernachbarn hatte eine der erfolgreichsten Software-Firmen gegründet, so Blair. Blair hatte für die höheren Ränge der Howard-Hughes-Organisation gearbeitet, so Blair. Er war der Hauptorganisator der Legalisierungsbewegung für Marihuana gewesen, so Blair. [...] Es ist nicht schwer, den Rap von Blair Newman zu parodieren. Dann, nach etlichen Jahren online und Dutzenden von Partys [...] löschte Blair Newman alles, was er jemals in die WELL-Datenbank geschrieben hatte. [...] Es war eine Art geistigen Selbstmords. Einige Wochen später nahm sich Blair wirklich das Leben. [...] Die meisten Leute auf der Beerdigung waren von WELL. Aber es war auch noch eine erstaunlich große Menge eigenartiger anderer Typen da. Alle, die da waren, erinnern sich an den glatten Burschen im Tausend-Dollar-Anzug und mit der Dreihundert-Dollar-Sonnenbrille, der mit dem firmeneigenen Jet zur Beerdigung gekommen war [...] Weiße Rastas tauchten auf – Aktivisten für die Legalisierung von Marihuana. Gründer erfolgreicher Software-Firmen trafen ein. Es war ein letzter großer Lacher. Als diese erstaunliche Parade von Leuten in der Halle des Friedhofs aufstand und ihren Vers über Blair aufsagte, dämmerte uns allen dass er immer die unglaubliche Wahrheit erzählt hatte. [...] Es gab das wirkliche Begräbnis, auf dem wir physisch anwesend waren und einander und Blairs Familie umarmten. Wir merkten, wie sehr wir Blair gemocht hatten, und dass sein Tod einen Meilenstein im Cyberspace gesetzt hatte. [...] Wie könnte irgendjemand von uns, der den anderen an jenem Nachmittag des Begräbnisses in die Augen sah, bestreiten, dass die Bande zwischen uns eine reale Qualität erhalten hatte?“ (Rheingold 1994, 49ff) 4. Internationale Online-Kulturen im Vergleich Auf seinen Reisen durch die Welt besuchte Reingold auch Freunde in Japan und Frankreich und nutzte die Gelegenheit, um sich parallel dazu die Online-Kulturen und bedeutendsten Konferenzsysteme dieser beiden Länder näher anzusehen. Es folgen interessante Erkenntnisse dieser Arbeit. 4.1. Besonderheiten der japanischen Netzkultur Die Geburtsstunde einer bedeutenden virtuellen Gemeinschaft in Japan, COARA, war damit gegeben, dass eine gemeinsame Informationsquelle zwischen einigen wenigen Personen geschaffen werden sollte. Izumi Aizu, einer der Mitbegründer, wies gleich zu Beginn darauf hin, auch persönliche Kontakte zwischen den Mitgliedern ermöglichen zu wollen. Aizu hatte in den USA die Erfahrung gemacht, dass die Leute CMC vor allem dafür verwendeten, Kontakt miteinander aufzunehmen, und erst in zweiter Linie daran interessiert waren, auf Informationen zuzugreifen. Dieser Aspekt wurde auch durch eine Befragung unter COARA-Mitgliedern unterstrichen, als viele der Meinung waren, dass erst zu jenem Zeitpunkt eine Gemeinschaft entstand, als ein Highschool-Schüler begann, autobiografische Notizen zu veröffentlichen. Die Leute fingen an, regelmäßig Verbindung zu COARA aufzunehmen, weil sie wissen wollten, was los war und weil sie sich darüber unterhalten wollten. (Vgl. Rheingold 1994, 253) Interessant ist generell jene Tatsache, dass die Mitglieder von COARA verschiedenen Gesellschaftsschichten und Berufen zugeordnet werden können und demnach nicht unbedingt ein 1:1 Abbild der japanischen Gesellschaft wiedergeben. So gibt es in Japan klare Grenzen in Abhängigkeit von Beruf, Alter und Geschlecht – als ungewöhnlich darf z.B. der hohe Frauenanteil bei Online-Diskussionsrunden angesehen werden. (Vgl. Rheingold 1994, 253) COARA hat weiters eine sehr liberalisierende Funktion, wenn es darum geht, seinen zukünftigen Ehepartner zu finden. Die Frauen in Japan lernen ihre zukünftigen Ehemänner klassischerweise dadurch kennen, indem diese von ihrer Familie oder ihren Arbeitgebern vorgestellt werden. COARA bietet in dieser Hinsicht eine alternative und vor allem größere Auswahlmöglichkeit. (Vgl. Rheingold 1994, 254) Die Begeisterung für öffentliche Foren hält sich trotz dieses „Zuckerls“ doch sehr in Grenzen. Beklagt wird die fehlende kontroverse Diskussion, was wiederum als Charakteristika der japanischen Kultur angesehen werden kann. Ein Kollege Rheingold’s erklärt dies mit folgendem Beispiel: „[...] Als die Punkwelle nach Japan schwappte, konnte man mit einem Jugendlichen zusammenrempeln, der „fuck off und stirb“ auf seinem Button stehen hatte [...] Du stößt also auf der Straße mit ihm zusammen, und dann hörst du: „Entschuldigung, das wollte ich nicht.“ (Rheingold 1994, 268) Aufgrund dieser zurückhaltenden Natur und auch der Tatsache, dass der Kern der japanischen Kultur unantastbar ist, werden die Möglichkeiten der neuen Kommunikationstechnologien nicht in dem Ausmaße genutzt, wie es zum Beispiel in den USA der Fall ist. Nationale Grenzen und vor allem Differenzen werden nur in kleinen Schritten überwunden – die Angst vor von außen kommenden sozialen Änderungsversuchen ist noch zu übermächtig. (Vgl. Rheingold 1994, 268) 4.2. Frankreich und seine Bedenken In eine absolut entgegengesetzte Richtung – verglichen mit den USA und Japan – entwickelt sich die Nutzung des Netzes in Frankreich. Virtuelle Gemeinschaften, die in den USA nicht mehr wegzudenken sind, gibt es in Frankreich nur sehr vereinzelt. Hier wird öffentliches Miteinander noch sehr groß geschrieben – für eine “Nachahmung“ von Gemeinschaft besteht gegenwärtig in Frankreich noch kein Bedarf. Nina Popravka, eine französische Computerspezialistin, umschreibt diese Entwicklung in der Frage, „ob für die Menschen die verbindende Seite virtueller Gemeinschaften die gleiche Bedeutung auch dort hat, wo sich Menschen in dem immer noch lebendigen Herzen ihrer Stadt begegnen können, und ob nicht die Stadtrandsiedelungen, die Slums und die Einkaufszentren des modernen Amerikas eine notwendige Bedingung für die Verbreitung virtueller Gemeinschaften sind?“ (Rheingold 1994, 276) Eine Parallele zu Japan gibt es in Frankreich hinsichtlich der Angst vor fremden Einflüssen. Da die Franzosen ein sehr kulturbewusstes Volk sind (als Stichwort möchte ich die rigorose Verwendung der französischen Sprache in den Raum werfen), werden Entwicklungen aus den USA und das Internet-Experiment im Speziellen mit Misstrauen begutachtet. Die Abschottung des französischen Netzes, welches an sich sehr gut ausgebaut ist, gegenüber dem weltweiten Netz ist daher ein wesentlicher, von Rheingold geäußerter, Kritikpunkt. (Vgl. Rheingold 1994, 287f) Neben Frankreich und Japan stehen auch viele andere Nationen vor diesem Scheideweg. Entweder man nimmt durch eine Verweigerung der Einbindung in Kauf, in der Entwicklung zurückzubleiben, oder aber man riskiert die Gefahr einer möglichen sozialen Veränderung. (Vgl. Rheingold 1994, 294) 5. Möglichkeiten und Gefahren der Neuen Medien Mein abschließendes Kapitel soll sich mit den kommenden, möglichen Entwicklungen des Internets befassen – Rheingold sieht diese Zukunft sowohl mit einem lachenden als auch einem weinenden Auge: „Obwohl ich von den Liberalisierungsmöglichkeiten computervermittelter Kommunikation begeistert bin, versuche ich, die Fallstricke nicht zu übersehen, die die Verknüpfung von Technologie und menschlichen Beziehungen bereithalten kann.“ (Rheingold 1994, 15) Ich möchte diesen Teil meiner Arbeit nur kurz anschneiden, da er den Bereich der virtuellen Gemeinschaften nur indirekt anspricht. Auf keinen Fall will ich aber diese Thematik unerwähnt lassen. Wer sich näher in diesen Bereich einlesen möchte, den verweise ich auf den Weblog von Maria Kapeller "Denkanstoß Internet". Viele Befürworter des Cyberspace sehen in den Neuen Medien eine Chance, sachliche und vor allem politische Diskussionen unter der Bevölkerung wieder anzuregen. Diese machen laut Rheingold den Nährboden der demokratischen Wurzeln aus. (Vgl. Rheingold 1994, 339) Wohl auch deshalb, da das Internet die einmalige Möglichkeit bietet, Informationen auf eigene Faust zu recherchieren und zu veröffentlichen, im Gegensatz zu den klassischen Medien Fernsehen, Radio und Presse, wo eine kleine Gruppe über die Selektion und auch über die Aufbereitung der Themen entscheidet. „Alles, was die Leute dazu bringt, vom Fernseher wegzugehen und miteinander über das zu kommunizieren, was rundherum vor sich geht, ist ein Schritt in die richtige Richtung“ (OQ 4), so Rheingold. Damit aber auch schon genug der enthusiastischen Worte. Durch die absehbare Kommerzialisierung des Netzes wird sich das Internet aller Voraussicht nach schon bald nach den Interessen einiger weniger Medienorganisation ausrichten. „Unternehmen investieren Hunderte von Millionen Dollar für neuen Medien von denen sie sich Milliarden Dollar Gewinne versprechen.“ (Rheingold 1994, 24) Schon jetzt müssen wir für den Zugang zum weltweiten Netz zahlen, und auch wenn dieser Betrag für die meisten von uns (noch) als erschwinglich betrachtet wird, schließt er viele sozial bedürftige Menschen aus. Sie haben daher auch nicht die Chance, die intellektuellen Möglichkeiten des Internet zu nützen. Noch gefährlicher erscheint für mich die Tatsache, dass neben dem „normalen“ Bürger auch politische Mächte den Weg ins Netz finden werden bzw. schon gefunden haben. Gedanken und Meinungen anderer Menschen können auf einfache Weise manipuliert werden. Man braucht nur einen Blick in die Vergangenheit werfen, wo Technologien, die dazu gedacht waren, die Rechte der Bürger zu stärken, von den totalitären Autoritäten genutzt und missbraucht wurden. Langdon Winner bemerkt in einem seiner Essays: „[…] Vorstellung, daß es die Bestimmung des Computers sei, der modernen Gesellschaft zu Gleichberechtigung zu verhelfen. […] Vorstellungen dieser Art wiederholen, was Revolutionäre des achtzehnten Jahrhunderts von Feuerwaffen in der Hand der Bürger dachten; daß sie das entscheidende Mittel wären, die festgefügten Autoritäten zu stürzen. […] Wie die militärische Niederlage der Pariser Kommune jedoch zeigt, braucht die Tatsache, daß das Volk bewaffnet ist, nicht von entscheidender Bedeutung sein. Wenn Gewalt der Gewalt gegenübersteht, behält oft die rücksichtslosere und mit den ausgefeilteren Waffen ausgerüstete Seite die Oberhand. […] Mit einem Personal Computer hat man gegenüber der National Security Agency beispielsweise soviel Macht, wie ein Drachenflieger gegenüber der Air Force.“ (Winner zit. n. Rheingold 1994, 350) Winner spricht hier bereits die nächste Gefahr an: die Verletzung unserer Privatsphäre. Die neuen Technologien bieten nämlich nicht nur die Möglichkeit, nützliche Informationen zu übermitteln, sondern auch für gezielte Fehlinformationen, Überwachung und Kontrolle eingesetzt zu werden. (Vgl. Rheingold 1994, 339) „Mit den Kabeln, die heute Informationen in unsere Wohnzimmer bringen, ist es technisch schon möglich, Informationen auch wieder aus unseren Häusern hinauszuschaffen und sie augenblicklich denen zu übermitteln, die an solchen Informationen interessiert sind.“ (Rheingold 1994, 28) Und das Schlimme daran ist, dass jeder Einzelne persönliche Daten bereitwillig für den Missbrauch zur Verfügung stellt – wer von uns war nicht schon einmal in einem Online-Shop als Käufer aktiv oder hat „lediglich“ bei einem Gewinnspiel seine Daten hinterlassen?! Am dramatischsten, und somit beende ich auch dieses zum Nachdenken gedachte Kapitel, sehen die Hyperrealisten die Entwicklungen im Cyberspace. Sie sehen im Einsatz von Kommunikationstechnologien eine vollständige Substitution der natürlichen Welt durch eine Welt der Unterhaltung. Die „Realität“ als solches wird nicht mehr erkannt und die Mehrheit der Bevölkerung wird systematisch eingenebelt und immer präziser manipuliert. Das Endziel der Mächtigen wurde dann erreicht, wenn alle Leute glauben, sie seien frei, obwohl sie schon jeglicher Rechte beraubt worden sind. (Vgl. Rheingold 1994, 360f) Aufgrund dieser angenommenen Horrorszenarien wird es zukünftig noch wichtiger sein, als Internet-User die enormen Möglichkeiten – auf intellektuellem, sozialem und politischen Gebiet – zu nützen und mehr Menschen für die neue Technologie zu begeistern. Die Massenmedien haben die Macht des Individuums, Einfluss zu nehmen, bereits jetzt stark reduziert und nur jene Menschen, die die Macht über die Medienwelt haben, werden in Zukunft Einfluss nehmen können. (Vgl. OQ 2) Es erscheint mir wichtig, den Mächtigen durch unser Wissen den Weg ins Netz, auch durch neue Gesetze und Normen, zu erschweren, damit dieses nicht restlos kommerzialisiert und zur Überwachung benutzt werden kann. Denn die Freiheiten, die wir jetzt verlieren, werden wir später kaum noch zurückgewinnen! >> Zurück zur Hauptseite << Literaturverzeichnis Rheingold, Howard (1994). Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers. Bonn: Addison-Wesley. Onlinequellen: OQ 1: Brückerhoff, Björn (2003). Die nächste soziale Revolution? In: http://www.diegegenwart.de/ausgabe33/rheingold.htm, aufgerufen am 15. November 2003 OQ 2: Brückerhoff, Björn (2003). Köpfe der Gegenwart. Howards Brainstorm. In: http://www.diegegenwart.de/koepfe/howard_rheingold.htm, aufgerufen am 15. November 2003 OQ 3: Döring, Nicola (2001). Virtuelle Gemeinschaften als Lerngemeinschaften. Zwischen Utopie und Dystopie. In: http://www.die-frankfurt.de/zeitschrift/32001/positionen4.htm, aufgerufen am 15. November 2003 OQ 4: Konr@d (1998). Die digitale Droge. In: http://www.goethe.de/oe/mos/seminar1/desem61.htm, aufgerufen am 15. November 2003 OQ 5: Krempl, Stefan (1998). Reality-Check Communities. Viel Lärm um rein virtuelle Gewinne? In: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/1476/1.html, aufgerufen am 15. November 2003 OQ 6: Lehrstuhl für Allgemeine und Industrielle Betriebswirtschaftslehre der TU München. Research Group Virtual Communities. In: http://www.ioc-online.org/research/communities.htm, aufgerufen am 15. November 2003 OQ 7: Martins da Costa, Marie (2002). Soziale Aspekte im Netz. In: http://www.unibas.ch/LIlab/studies/IR-SS2002/MartinsDaCosta/SeminarAIRVorlage1.htm, aufgerufen am 15. November 2003 OQ 8: Mekelburg, Hans-G. (1998). Howard Rheingold. Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers. In: http://home.nordwest.net/hgm/lib/rhein.htm, aufgerufen am 15. November 2003 OQ 9: Philipps-Universität Marburg. Virtuelle Gemeinschaften – soziale Aspekte. In: http://www.mathematik.uni-marburg.de/~hesse/film/gruppe6/gr_6_vg.html, aufgerufen am 15. November 2003 OQ 10: Ritter, U.P. (1999). Virtuelle Nachbarschaften und virtuelle Gemeinschaften. In: http://www.wiwi.uni-frankfurt.de/professoren/ritter/veranstalt/ss99/seminar/text04.html, aufgerufen am 15. November 2003 >> Zurück zur Hauptseite << ... link (4 comments) ... comment |
Online for 7738 days
Last update: 2004.02.12, 12:38 You're not logged in ... login
Das sind ja interessante...
Gehe ich Recht in der Annahme, dass sich die beiden... by rene.milich.salzburg (2004.02.12, 12:38) Rheingold und Brody ..
.. auf der Emerging Technology Konferenz. Textamerica... by Hans.Mittendorfer.Uni-Linz (2004.02.12, 00:46) Überwachung...
Was die "Überwachung" der Forumsbetreiber betrifft... by christian.ziegler.linz (2004.01.26, 16:45) Herzlichen Dank!
Hallo Rene, danke, dass du mitgearbeitet hast. Wie... by catharina.gaigg.linz (2004.01.26, 15:06) Evaluierungs-Blog
Hi Catharina! Also ehrlich gesagt hab ich bis vor... by rene.milich.salzburg (2004.01.25, 18:03) |