Netzneutralität - Priorisierungen sind aus ökonomischer Sicht sinnvoll
tania christine.theinschnack.uni-linz, 24. Dezember 2019, 02:19
Seit November 2015 besteht in der Europäischen Union das gesetzlich verankerte Grundprinzip der Netzneutralität, wonach eine gleichberechtigte Übertragung von Daten im Internet zu erfolgen hat. Unabhängig von Inhalt, Empfänger oder Absender sind somit nach diesem Prinzip alle Daten nach der Reihenfolge des Eintreffens beim Provider in gleicher Qualität und Geschwindigkeit weiterzuleiten (Best-effort-Prinzip). Demnach gibt es keine Daten, Dienste oder Nutzer erster oder zweiter Klasse, keine wichtigen oder weniger wichtigen Inhalte und keinen Unterschied, welche Art von Anwendung und welches Protokoll das Datenpaket übermittelt oder welchen Internettarif Sender und Empfänger zahlen. Ausnahmen sind nur für Maßnahmen des Verkehrsmanagements - etwa bei temporären Netzüberlastungen - und für Dienste mit speziellen Qualitätsanforderungen, wie Anwendungen in der Telemedizin oder der Maschinensteuerung, die auf eine schnelle und zuverlässige Datenübertragung angewiesen sind, zulässig.
In diesem Zusammenhang und im Hinblick darauf, dass sich die Kommunikation, Informationsvermittlung und der Konsum von Medien zunehmend ins Internet verlagert und zusätzlich durch neue zeitsensitive Anwendungen wie (Live-)Streaming-Dienste der Datenverkehr weiterhin steigen wird, deuten Pio Baake und Slobodan Sudaric, die in ihrer Arbeit die Netzneutralität aus ökonomischer Sicht betrachten, darauf hin, dass eine Priorisierung von Datenpaketen sinnvoll sein kann, da hierdurch nicht nur eine effizientere Nutzung der Netzkapazitäten einhergeht, sondern auch der Wettbewerb zwischen den Internetanbietern intensiviert wird und diese zudem ihre Angebote besser ausdifferenzieren können, wovon insbesondere Haushalte profitieren. Außerdem beanstanden Baake und Sudaric, dass das für zeitunkritische Anwendungen konzipierte Best-effort-Prinzip Echtzeitanwendungen nicht gerecht werden kann.
Die ökonomische Betrachtung geschieht vor dem Hintergrund, dass aufgrund von begrenzen Übertragungskapazitäten der steigende bzw. ein hoher Datenverkehr zur Beeinträchtigung der Datenübertragung und damit verbundenen Qualitätsminderungen bei der Nutzung von Anwendungen und Diensten führt. Eine Priorisierung von Datenpaketen ist somit aus Sicht der Content Provider (Inhalte- und Anwendungsanbieter) umso wichtiger und wertvoller, je stärker die Qualität ihrer Angebote von der Übertragungsqualität beeinflusst wird - also vor allem bei zeitkritischen Anwendungen - und je mehr Kunden über das Netz des jeweiligen Netzbetreibers erreicht werden können. Für die Netzbetreiber wird dadurch die priorisierte Übertragung zu einem Instrument mit dem sie zwischen Content Providern mit unterschiedlich zeitsensitiven Anwendungen und Diensten differenzieren können, wobei hier die Differenzierung auf einer Selbstselektion der Content Provider beruht, d. h. Content Provider entscheiden selbst, ob ihre Datenpakete priorisiert übertragen werden sollen.
Im Hinblick darauf, dass eine Priorisierung des Datenverkehrs mit negativen Effekten zu Lasten nicht priorisierter Anwendungen verbunden ist, gehen Baake und Sudaric dennoch davon aus, dass die Effizienz der Datenübertragung insgesamt verbessert wird, da Netzbetreiber über entsprechende Preise für Anwendungsanbieter die Datenübertragung so steuern können, sodass die durchschnittliche Qualität aller Anwendungen steigt. Neben diesen Effekt ist es ebenfalls vorstellbar, dass durch erzielte Mehreinnahmen der Anreiz bzw. die Möglichkeit für Netzbetreiber geschaffen wird, ihren angeschlossenen Haushalten günstigere Tarife anzubieten und hierdurch auch neue Kunden anzusprechen oder in ihre Netzinfrastruktur zu investieren, wobei hier wiederum durch höhere Übertragungskapazitäten, die Attraktivität des Netzes für Kunden und die Nachfrage nach priorisierten Diensten steigt.
Inwieweit im Gesamtergebnis die Netzbetreiber von einer Priorisierung des Datenverkehrs profitieren, lässt sich schwer einschätzen, da auf der einen Seite durch die Priorisierung zusätzliche Einnahmen entstehen, diese jedoch auf der anderen Seite durch den intensiveren Wettbewerb um den Anschluss von Haushalten und damit einhergehend verringerten Anschlusspreisen sinken. Auch bezüglich der Auswirkung bzw. den Konsequenzen der Priorisierung auf die Anwendungsanbieter zeigt sich ein gespaltenes Bild. Während Anwendungsanbieter, die nicht die Möglichkeit der bevorzugten Datenübertragung nützen an Übertragungsqualität verlieren und somit im Wettbewerb benachteiligt werden, profitieren im Gegenzug diejenigen Anwendungsanbieter, deren Anwendungen sehr zeitsensitiv sind und demzufolge auf die Priorisierung ihres Datenverkehrs zurückgreifen. Ein weiter wesentlicher Punkt, den die Autoren hierzu anführen bezieht sich darauf, dass ein fairer Wettbewerb und Diskriminierungsfreiheit sichergestellt werden muss, sei es durch explizite Regelungen oder durch die konsequente Anwendung des bestehenden Wettbewerbsrechts. In diesem Zusammenhang steht hier insbesondere die Transparenz und die Nachvollziehbarkeit des Zustandekommens von Priorisierungsangeboten sowie ein diskriminierungsfreier Zugang zu den angebotenen Differenzierungsmöglichkeiten im Vordergrund, um Chancengleichheit zwischen Content Providern herzustellen.
FAZIT
Unabhängig davon inwieweit die Priorisierung von Datenpaketen ökonomisch betrachtet sinnvoll zu sein scheint, wird das Thema der Netzneutralität in den nächsten Jahren noch viele Diskussionen auslösen, da die digitale Transformation zwangsläufig die Voraussetzung einer hohen Übertragungsrate und damit verbunden hohe Anforderungen an das Internet erwirken wird. Gerade im Hinblick auf Zukunftstechnologien wie das autonome Fahren oder auch andere Anwendungsbereiche wie etwa aus der Medizintechnik, die in Echtzeit arbeiten und/oder eine hohe Verantwortung tragen, werden schnelle und zuverlässige Übertragungswege zwingend erforderlich. Durch die Netzneutralität können zukünftige Innovationen aufgrund von zu geringen Netzkapazitäten oder fehlender Kommunikationsgeschwindigkeit ausgebremst, nicht umgesetzt oder innovative Weiterentwicklungen eingeschränkt werden. Klar dürfte somit sein, dass der Netzausbau entscheidend zur digitalen Transformation beiträgt und sich nur mit einer entsprechend hohen Bandbreite die Netzneutralität aufrechterhalten lässt.
Es bleibt daher abzuwarten, in welchem Ausmaß der Netzausbau in den nächsten Jahren vorangetrieben wird und tatsächlich auch bewältigt werden kann, oder ob die Netzneutralität aufgrund von verzögerten Ausbaufortschritten eingeschränkt werden muss bzw. gänzlich zu Fall gebracht wird. Um einen ersten Einblick zu geben wie sich aus ökonomischer Sicht die Priorisierung des Datenverkehrs auf Netzbetreiber, Anwendungsbereitsteller und Haushalte auswirken könnte, wurde daher der Artikel von Baake und Sudaric ausgewählt, da aus diesem auch deutlich hervorgeht, dass neben den Aspekten die gerne in Verbindung mit dem Thema Netzneutralität gebracht werden wie die Sicherung der Meinungsfreiheit, Demokratie oder die politische Kontrolle bzw. die Verhinderung von politischem Missbrauch, durch die Priorisierung von Datenströmen auch viele weitere problembehaftete Auswirkungen wie u. a. Diskriminierungen, Wettbewerbseinschränkungen bzw. -benachteiligungen und zunehmende Intransparenz einhergehen.
QUELLE:
Baake, P. & Sudaric, S. (2018). Netzneutralität: Priorisierungen sind aus ökonomischer Sicht sinnvoll. DIW Wochenbericht, 85 (22), S. 554-559. doi: 10.18723/diw_wb:2018-25-4.
https://www.econstor.eu/bitstream/10419/180696/1/1025158768.pdf [abgerufen am 12.12.2019]
Netzneutralität und mögliche Diskriminierung durch Abhängigkeitsverhältnisse
anica.nacova.uni-linz, 13. Jänner 2020, 13:39
Wie bereits im Fazit angeschnitten, scheint eine Diskriminierung entgegen der Netzneutralität einiges an Missbrauchspotential zu bieten. Sollte eine Priorisierung von Datenströmen freigegeben werden, ist es unumgänglich, dass öffentliche Dienste wie die Strom- und Wasserversorgung oder andere zeitkritische Dienste, die zwangsläufig auf eine schnelle Datenübertragung angewiesen sind, bevorzugt behandelt werden. Ansonsten könnte das Ergebnis sein, dass daraus eine indirekte Steuer auf die Verbrauchter entsteht, wenn entsprechende Dienstleister gezwungen werden, die teureren Datenpakete zu kaufen und diesen Kostenanstieg dann direkt an den Verbraucher weitergeben.