Demokratie und Web: Neue Formen der Mitbestimmung

antonia.gantner.uni-linz, 15. Dezember 2015, 16:24

Mitte des 15. Jahrhunderts erfand Johannes von Gutenberg den Buchdruck, machte es möglich, Druckwerke in hoher Auflage zu produzieren – die dritte wesentliche Erfindung der Mediengeschichte nach der Ausbildung der Sprache und komplexer Schriftsysteme und Voraussetzung für die Entstehung der Massenpresse im 19. Jahrhundert. (Prase 2015: 154)

 

Da mit den Printmedien Informationen rasch vervielfältigt und vielen Menschen zugänglich gemacht werden konnten, wirkten sie auf den Zeitgeist, erzeugten durch ihre massenhafte Erscheinung Stimmungen, prägten Mentalitäten im Guten wie im Bösen. Sie waren wichtiges meinungsbildendes Mittel während der Reformation, verbreiteten Ideen der Aufklärung und Toleranz, dienten im Kampf um die Meinungsfreiheit für die demokratische Bewegung.“

(Prase 2015: 153)

 

Solche Entwicklungen “[…] haben die kulturelle und soziale Entwicklung der Menschheit entscheidend mitgeprägt. Die Erfindung der Schrift im vierten Jahrtausend vor unserer Zeit, die Erfindung des Buchdrucks zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert, die flächendeckende Verbreitung von Radio und Fernsehen ab dem beginnenden 20. Jahrhundert und schließlich die digitale Revolution zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind allesamt Beispiele für […] Medienumbrüche.“

(Schaal 2015: 280)

 

Schon 1969 hat das Militär einen Vorläufer des Webs entwickelt, 1989 war es dann (dank Tim Berners-Lee) erstmals auch Laien zugänglich – wieder eine wesentliche Entwicklung. Anfangs wurde das Web allerdings (fast) nur für das Senden von elektronischer Post und zur Datenübertragung verwendet, Zeitungen stellten erst Archive online. (Wiedemann/Noack 2015: 217f.) Erst Ende der 1990er bzw. Anfang der 2000er Jahre entdeckte dann die Masse das Internet, 2006 wurde es dann zum „Mitmachnetz“ – eine Kombination aus Kommunikation, Multimedia und Entertainment. (vgl. Wiedemann/Noack 2015: 223f.) Die Ära der sozialen Medien begann: „Das Netz ermöglicht den Menschen spontane Interaktivität; es sind schnelle Reaktionen möglich.“ (Wiedemann/Noack 2015: 227) Statt am Stammtisch mit Freunden oder Bekannten zu diskutieren, postet man heutzutage in Foren oder soziale Netzwerke und diskutiert oft anonym mit Fremden.

 

Die kommunikativen Formen sind nicht mehr nur die individuelle Kommunikation per E-Mail, Instant Messager, Voice over IP, Chats oder Foren, sondern Veröffentlichung und Kommunikation finden vor allem in und über Blogs, Podcasts, Vodcasts, per Mikroblog- ging, via kollaborativer Zusammenarbeit, per Communitys, in virtuellen Welten oder auch in „Mashups“, die alle genannten Inhalte miteinander verbinden können, statt.“

(Wiedemann/Noack 2015: 229)

 

Wissenschaftler führen seit den 1990er Jahren einen Diskurs über die Auswirkung vom Web und anderen technologischen Entwicklungen auf die Gesellschaft, drei Ansichten – die unterschiedliche Ebenen ansprechen – dominieren die Diskussion:

 

  • "Die gesellschaftstheoretischen Ansätze vertreten die Position, dass die Informations- und Kommuninkationstechnik (IKT) eine Revolution angestoßen haben – den digital turn (Berry 2011)–, die nicht nur eine quantitativ, sondern auch qualitativ neue Form von Demokratie ermöglichen wird." (Schaal 2015: 279, H.i.O.) 

  • "Die institutionstheoretischen Ansätze akzeptieren grosso modo das institutionelle Arrangement der liberal-repräsentativen Demokratie und richten ihr Erkenntnisinteresse darauf, ihre demokratische, systemische und/oder epistemische Performanz durch Bausteine der E-Democracy zu verbessern.“ (Schaal 2015: 279, H.i.O.)

  • "Die akteurstheoretischen Ansätze analysieren empirisch den Einfluss von IKT auf individuelles wie kollektives Handeln sowie auf die Einstellung der Bürger." (Schaal 2015: 280, H.i.O.)  

 

Laut Martin Hagen adressieren die drei Ansätzen unterschiedliche Ebenen einer E-Democracy-Theorie und sind dadurch verbunden, dass alle drei „regard computers and/or computer networks as central tools in the working of a democratic political system.“ (Hagen o.J.: o.S., zit. n. Schaal 2015: 280) Auch Oystein und Päivärinta definieren E-Democracy ähnlich: „[…] E-Democracy refers to the use of information and communication technology (ICT) in political debates and decision-making processes, complementing or contrasting traditional means of communication.“ (Oystein/Päivärinta 2006: 818, zit. n. Schaal 2015: 280)

Schaal schließt daraus folgendes: „Damit entsprechen alle westlichen Demokratien dem Modell der E-Democracy.“ (Schaal 2015: 280, H.i.O.) Er fokussiert daher Prozesse der Meinungs- und Willensbildung, die nur durch das Internet realisierbar sind (vgl. Schaal 2015: 280)

 

Die zeitgenössische E-Democracy lässt sich laut Schaal in zwei große Ansätze unterteilen: Wikidemocracy und Liquid Democracy. „Beide Ansätze […] transferieren die technische und soziale Organisationssttruktur des Internet zurück auf die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit.“ (Schaal 2015: 285)

 

Liquid Democracy ist eine Mischform aus repräsentativer und direkter Demokratie und vereint die Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten des 21. Jahrhunderts mit dem steigenden Bedürfnis nach demokratischer Mitsprache. (vgl. Panek/Reichert 2014: 301) „Dabei zielt das Konzept [der Liquid Democracy] darauf ab, die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger dergestalt auszuweiten, dass sie sich auch über die Wahlen hinaus zu anstehenden Entscheidungen äußern und ihre eigenen Interessen vertreten können.“ (Panek/Reichert 2014: 301) Während heutzutage die Bürger und Bürgerinnen zwar wählen, die tatsächliche Entscheidung aber bei den Repräsentanten und Repräsentantinnen liegt und in den Ausschüssen entschieden wird, sollen beim Liquid-Democracy-Konzept offene Diskurse stattfinden. (vgl. Panek/Reichert 2014: 301)

Jedoch sollten dabei die Diskussions-Bedingungen nicht außer Acht gelassen werden: Um die Entscheidungen im Interesse der Allgemeinheit fällen zu können, muss sichergestellt werden, dass jeder die gleichen Mitbestimmungs- und Äußerungschancen hat – zeit- und ortsunabhängig. (vgl. Panek/Reichert 2014: 302)

 

Über die neuen Kommunikationsformen, die durch das Internet entstehen, wird es erstmals in der Geschichte der Menschheit möglich, dass auch in großen Gesellschaften alle Menschen in einem kommunikativen Raum zusammenkommen und sich qualitativ und quantitativ über gemeinsame Anliegen, Ziele und Interessen austauschen können.“

(Panek/Reichert 2014: 302)

 

Eine erste Umsetzung der Liquid Democracy erfolgte bereits: Etwa mit der Entwicklung von adhorcay, einer open-source basierten Software bei der Nutzer Vorschläge einbringen können, die dann diskutiert und erweitert werden. (vgl. Brabanski/Kettner 2015: 21) Das Konzept wird zusätzlich durch das schwindende Vertrauen in die repräsentative Demokratie begünstigt. Gleichzeitig kann die Internet-affine Jugend bei Themen, die sie interessieren mit reden.

Dennoch ist Liquid Democracy kritisch zu begutachten: So haben etwa nicht alle Bürger und Bürgerinnen einen Internetzugang, deshalb sollte auch eine Plattformneutralität garantiert werden. (vgl Brabanski/Kettner 2015: 30) Zudem ist es auch so, „[…] dass Liquid Democracy gewisse Schwierigkeiten in Konzepten deliberativer Demokratie krass hervortreten lässt, vor allem die Schwierigkeit, die gewünschte Allgemeinverbindlichkeit zu erzeugen.“ (Brabanski/Kettner 2015: 27)

Solche und andere mögliche Probleme sollten für eine optimale Umsetzung auf jeden Fall bedacht werden.

 

Wikidemocracy/Wikigovernment

Der innovative Beitrag von Wikigovernment besteht darin, den throughput-Bereich der liberal repräsentativen Demokratie mit Hilfe des Internet zu demokratisieren. Ausgangspunkt Novecks ist die These, dass moderne Demokratien ein epistemisches Problem besitzen." (Schaal 2015: 287, H.i.O.) 

In folgenden Video erklärt sie, was Wikigovernment/Wikidemocracy ist und was die Idee dahinter ist:

 


 

 

Quellen:

Brabanski, Oskar/Kettner, Matthias (2015): Chancen und Risiken von Liquid Democracy für die politische Kommunikation. In: Lange, Hans-Jürgen/Bötticher, Astrid (Hg.): Cyber-Sicherheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 19-35.

Panek, Eva/Reichert, Daniel (2014): Alles ist im Fluss – die fließenden Ebenen einer Liquid Democracy. In: Voss, Kathrin (Hg.): Internet und Partizipation. Bottom-up oder Top-down? Politische Beteiligungsmöglichkeiten im Internet. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 299-310.

Prase, Eva (2015: Mediengeschicht Printmedien. In: Altendorfer, Otto/Hilmer, Ludwig (Hg.): Medienmanagement. Medienpraxis – Mediengeschichte – Medienordung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 153-175.

Schaal, Gary (2015): E-Democracy. In: Lembcke, Oliver/Ritzi, Claudia, Schaal, Gary (Hg.): Zeitgenössische Demokratietheorie. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S.279-305

Wiedemann, Heinrich/Noack, Louisa (2015): Mediengeschichte Onlinemedien. In: Altendorfer, Otto/Hilmer, Ludwig (Hg.): Medienmanagement. Medienpraxis – Mediengeschichte – Medienordung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 213-247.

Noveck, Beth Simone (2012): Wiki.Gov Key Note. Vortrag bei Tech@State im US State Department's Office of ediplomacy. Online unter:https://www.youtube.com/watch?v=XC--AJrOWv8 (13.12.2015)

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