Ich muss gestehen: Ich wusste nicht, was ein Straßenfeger ist. Für manche Menschen ist dieser Begriff gängig, für mich nicht. Dieses Wort hat mit der Standard (1) beigebracht. Für diejenigen, die jetzt auch nicht so recht Bescheid wissen: Es geht hierbei um eine TV-Sendungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für menschenleere Straßen sorgten. Menschen, die keinen Fernseher hatten, gingen zu Freunden oder in ein Lokal. Beispielhaft lässt sich das sechsteilige TV-Spiel Tim Frazer des Briten Francis Durbridge nennen, dessen letzte Folge eine Einschaltquote von 93% (!) erreichte (2). Diese Quoten scheinen heute unerreichbar. Doch warum ist das so? Gibt es noch Ereignisse, die den Menschen so sehr unter den Fingernägeln brennen, dass sie es sofort sehen müssen? Oder hat sich die Zuseherschaft durch Aufnahmemöglichkeiten bis zum Onlinestreaming bereits so individualisiert, dass Einschaltquoten vollkommen nichtaussagende Worthülsen geworden sind? Ich suche die letzten Straßenfeger.

Das Fernsehen ist nicht im Rückzug - Wer sieht heute fern?

Spoiler alert! So ganz ausgestorben sind mediale Großereignisse noch nicht. Und es ist auch nicht so, als würde heute niemand mehr fernsehen. Im Gegenteil: Herr und Frau Durchschnittsösterreicher sieht öfter fern denn je, nämlich 169 Minuten pro Tag im Jahr 2012 (1997 waren das 142). Und da sind diejenigen miteinberechnet, die an dem Tag nicht ferngesehen haben. Unter den aktiven Zuschauern wurde eine Verweildauer von 261 Minuten (1997: 212) erhoben. Das ergaben die Erhebungen der Medienforschung des ORF (3). Diese Daten werden mit folgenden Zahlen gepaart: Von 2010 bis 2012 stieg der Anteil der TV-Haushalte mit Flatscreen-TVs von 54% auf 74% an, Full-HD-TVs stiegen von 24% auf 39%. Die alten Fernseher werden oft als Zweitfernseher behalten. Für junge Personen ist Fernsehen nur eine Möglichkeit, für ältere Personen ist TV als Medium wesentlich stärker vertreten. Personen über 60 sehen im Schnitt über 4 Stunden fern. Vermutlich bedingt durch die klassischen Geschäfts- und Schulzeiten ist das Hauptabendprogramm nach wie vor das am stärksten gesehene. Am Sonntag schaut man mehr als während der Woche, im Winter mehr als im Sommer, Frauen mehr als Männer.
 
 
Die starke Entwicklung der Fernsehgeräte in den letzten Jahren trägt sicher zu einem Revival des Fernsehens bei. So kann man zwar Medieninhalte auch im Streaming in ansprechender Qualität konsumieren, jedoch sind HD-Sender meist nur über die TV-Geräte zu empfangen.

Kneipenfernsehen reloaded - Wie sieht man heute fern?

Doch was sehen die heutigen Zuschauer? Wetten Dass...? ist es offenbar nicht, und rein subjektiv - belegen kann ich es nicht - werden auch die Nachrichtensendungen nicht mehr gesehen, schon gar nicht zu dem Zeitpunkt, an dem sie im TV ausgestrahlt werden.
 
Die Süddeutsche Zeitung bezeichnet die TV-Show Breaking Bad als letzten Straßenfeger (4). Und tatsächlich, die letzte Folge der Erfolgsserie überschritt die 10-Millionen-Marke bei den Zuschauern (5). Trotz der Möglichkeit, die Serie auf Netflix zu schauen, wann man möchte. Es gibt also offenbar noch die TV-Momente, die niemand verpassen möchte. Wo man sich beim Morgenkaffee keine Blöße geben will, aber sich auch nicht die Ohren und Augen zuhalten möchte, sobald nur annähernd dieses Thema angekratzt werden könnte. Man will sich die Spannung ja nicht verderben lassen. Natürlich wissne das auch die Fernsehsender: Während den Sendungen werden Hashtags dazu verwendet, um einen Social Media Buzz zu erzeugen. Beim Finale von Breaking Bad twitterten immerhin 600.000 User live mit, zu Beginn der Show wurden 23.599 Tweets-Pro-Minute gezählt (5). Begleitsendungen zur Show folgen unmittelbar nach Ende der Ausstrahlung und ermutigen zu heiterem/weiterem Mitdiskutieren, nachdem man mit der App zur Show in den Sendepausen bereits exklusive Inhalte konsumiert hat.
 
Diese Second Screen-Erfahrungen macht es für den Zuschauer verlockend, zur Echtzeit dabei zu sein, als Teil einer Gruppe. Das ganze Land schaut gemeinsam, tauscht sich aus oder gerät in Flame Wars miteinander. Kneipenfernsehen reloaded. Nur Sendung schauen und schlafen gehen tut man nicht mehr. 
 
Nun sind die 10 Millionen von Breaking Bad ganz beachtlich, doch deswegen waren die Straßen der Vereinigten Staaten nicht menschenleer. Eine Einschaltquote von 93% erreichte Tim Frazer, aber so ganz fair ist der Vergleich auch nicht, haben heute doch zum Beispiel etwa 97% der EU- und US-Haushalte (7) ein Fernsehgerät, 1963 waren diese Zahlen wohl noch nicht ganz so hoch.

Superbowl und Neujahrsfeiern - Was sieht man heute fern?

So ganz will ich allerdings nicht ablassen: Ich möchte wissen, ob es nicht doch noch Events gibt, die beinahe alle Menschen vor den Bildschirm locken. TV-Shows können in der Regel nachgesehen werden. Nur wenige schaffen es, für einen Hype zu sorgen, der die Leute die Erstausstrahlung nicht verpassen lässt.
 
In den meisten Fällen werden Fernsehserien allerdings als etwas angesehen, das man dann ansehen möchte, wann man will. Vielleicht sieht man auch gleich alle auf einmal. Wie bereits vorhin erläutert, wollten viele Zuschauer von Breaking Bad nicht bereits vorweg über das Ende informiert werden. Ausstrahlungen, die nur hier und jetzt bedeutend sind und deren Ergebnis-Vorwegnahme entweder die Spannung zerstören würde oder Ereignisse, die am Tag darauf niemand mehr wirklich sehen würde, könnten hierbei Aufschluss geben. Und tatsächlich: Mehr als 80 Millionen Menschen sahen 2012 gleichzeitig den Superbowl des American Football. Diese Zahlen wurden weltweit nur von der chinesischen Neujahrsfeier überboten: Hier schalteten 190 Millionen Menschen zeitgleich ihre Fernseher an. (6)
 
Es sind also zwar auch, aber zahlenmäßig nicht die TV-Shows, die die Menschen in Bann ziehen. Viel mehr sind es einmalige Events, deren Ausgang am Tag darauf für jeden klar zu sein hat. Wo jeder gleichzeitig auf der Couch sitzt und wo die Leute gleichzeitig auf die Toilette gehen, wenn Halbzeitpause ist. Diese nonchalante Überleitung verdankt der Leser der Tatsache, dass ich auf das Phänomen der Spülanalyse eingehen möchte. Seit einigen Jahren geben die verschiedensten Wasserwerke Deutschlands die Wasserverbrauchststatistiken während bedeutenden Fußballereignissen bekannt. Erstaunlicherweise ist es anhand der Visualisierung zu erkennen möglich, dass es sehr wohl noch so etwas wie einen "Gleichtakt der Couchpotatoes" gibt. Ist Halbzeit, gehen die Leute auf die Toilette. Fällt ein Tor, gehen die Leute auf die Toilette - wer sieht das erhaltene Tor schon gern zwei Mal? Ist das Spiel zu Ende, gehen die Leute auf die Toilette. Diese Visualisierung macht dieses Verhalten bei Beteiligung einer deutschen bzw. regionalen Mannschaft sogar noch deutlicher. (8)
Spülanalyse
 Freilich lässt sich dieses Verhalten auch bei Weltmeisterschaften beobachten. Zur WM 2010 wurde hier ein ganzer Fundus zusammengestellt.

Ein Abschlussgedanke

Trotzdem. So ganz will ich nicht glauben, dass der Superbowl die Straßen wirklich leergefegt hat. Immerhin wurden diese 80 Millionen auch durch internationale Zuschauer erreicht. Es benötigt also unter Umständen etwas Extremeres. Etwas, das mehr Menschen interessiert als eine Sportveranstaltung.
 
Was könnte heute ein Straßenfeger sein? Damit meine ich einen richtigen, der das ganze Land - vielleicht die ganze Welt vor das TV-Gerät bringt. Ihr seid eingeladen, zahlreich Aussagen zu formulieren. Nichts ist zu blöd, nichts ist zu lächerlich.
 
 




Kann mir nicht vorstellen, dass die Umfrage "repräsentativ" ist:

http://mediaresearch.orf.at/index2.htm?fernsehen/glossar_teletest.htm


Hey Dominik,

natürlich war das keine Umfrage. Stattdessen wurde die Nutzung über Messgeräte ermittelt. Das ist im Bereich der Medienforschung eine anerkannte und gängige Lösung. Diese Zahlen werden auf die Gesamtheit hochgerechnet, das ist auch bei Umfragen so üblich.

Die Geschichte mit den Boxen kann man durchaus kritisieren, ich find sie auch nicht optimal. Allerdings war zu früheren Zeiten keine Aufzeichnung der TV-Nutzung durch die Geräte selbst möglich. Aufgrund der Vergleichbarkeit wird mal deshalb wohl bei den alten Möglichkeiten bleiben. Ich glaube sogar, dass dies zu größeren Protesten führen würde. Hier haben wir dafür ein ganz gutes Beispiel. 

Wenn du gegensätzliche Zahlen (und die Quellen dazu) kennst, dann bin ich daran sehr interessiert!


Zu deiner Frage, bei welchen Ereignissen wir uns heute einen sog. "Straßenfeger" vorstellen könnten. Ich denke, heute kann es bei Naturkatastrophen oder anderen von Menschen erzeugten Katastrophen zu solchen Straßenfegern kommen, die die Leute vor dem Fernseher fesseln, falls man sich die Informationsupdates nicht via Internet oder anderen Kanälen holt.